Anaïs (Anaïs Demoustier) rennt. Weil sie immer zu spät dran ist, fegt sie durch Straßen, hastet über Gänge und trippelt über Treppen. Das soll wohl dem Film irgendwie jugendlichen Schwung verleihen und kaschieren, dass sich eigentlich herzlich wenig tut. Wie Anaïs’ Wortschwall: Jeden, der ihr begegnet, überschüttet sie ungefragt mit allem, was ihr durch den Kopf geht. Auch diese Mitteilungswut hat einen dramaturgischen Zweck: Sie redet so viel, weil sie im Grunde wenig zu sagen hat.
Info
Der Sommer mit Anaïs
Regie: Charline Bourgeois-Tacquet,
98 Min., Frankreich 2021;
mit: Anaïs Demoustier, Valeria Bruni Tedeschi, Denis Podalydès
Weitere Informationen zum Film
Geliebten im Aufzug kennenlernen
Weniger Geduld hat sie mit ihrem festen Freund Raoul. Als der erfährt, dass sie schwanger ist, und Mitspracherecht verlangt, ob sie abtreiben soll – wie sie es will – oder nicht, lässt sie ihn einfach stehen. Eine Zufallsbekanntschaft, die sie im Aufzug (!) kennenlernt, kürt sie flugs zu ihrem nächsten Geliebten: Wie und womit der ältliche Daniel (Denis Podalydès) ihre Sinne betört haben soll, bleibt völlig rätselhaft.
Offizieller Filmtrailer
Spaziergang führt ins Porno-Kabinett
Der Verleger ist seit langem mit der Erfolgsautorin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi) liiert. Als Anaïs ein Porträtfoto ihres Nackens (!) entdeckt, fängt sie Feuer; als sie ein TV-Interview mit ihr sieht, ist sie endgültig hingerissen. Und lässt alles andere fallen, um wie ein Groupie ihrem Star nachzustellen – dass sie gleichzeitig für ihren Doktorvater eine wissenschaftliche Konferenz vorbereiten soll, ist ihr schnuppe.
Anfangs ist Émilie etwas irritiert, wie beharrlich ihr neuer größter Fan um ihre Aufmerksamkeit wirbt; dann geschmeichelt. Beim Literatur-Kolloquium auf einem Landschloss kommen sich beide bei ausgedehnten Spaziergängen näher; passenderweise geraten sie in geheimes Kabinett voller pornographischer Drucke mit lesbischen Szenen aus dem 18. Jahrhundert. Am Strand passiert dann, was passieren muss. Beim Wiedersehen nach wochenlanger Wartezeit geschieht ebenso, was geschehen muss.
Sedierte Frühvergreiste spürt Begehren
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wo in Paris die Sonne aufgeht" – wunderbare Tragikomödie über eine Vierecksbeziehung von Jacques Audiard
und hier eine Rezension des Films "La belle saison – Eine Sommerliebe" – lesbisches Liebesdrama in den 1970er Jahren von Catherine Corsini mit Cécile de France
und hier eine Kritik des Films "Das bessere Leben – Elles" über Studentinnen-Prostitution von Małgorzata Szumowska mit Anaïs Demoustier
und hier ein Beitrag über den Film "Die Überglücklichen" – Porträt einer furiosen Frauenfreundschaft von Paolo Virzì mit Valeria Bruni Tedeschi
und hier einen Bericht über den Film "Tage am Strand" – lesbisches Liebesdrama von Anne Fontaine mit Naomi Watts + Robin Wright.
Alle Dialoge klingen ausgedacht und phrasenhaft; damit kann man keinen umgarnen. Alle Situationen wirken plump konstruiert; wie beim billigen Boulevard meint man, das Knallen der Türen zu hören, wenn Akteure auftreten und abgehen. Anaïs Demoustier, eine in Frankreich viel beschäftigte Schauspielerin, dürfte trotz aller Hektik selten so blass und ausdruckslos gewirkt haben wie hier. Star-Aktrice Valeria Bruni Tedeschi soll eine 56-Jährige spielen, schleppt sich aber wie eine Frühvergreiste durch die Szenen; kaum zu glauben, dass sie so sediert noch einmal bisexuelles Begehren verspürt.
Ein bisschen bi reicht nie
Wenn das französische Kino auf irgendein Filmgenre das Patent hält, dann auf federleichte Liebeskomödien. Regie-Legenden wie François Truffaut und Éric Rohmer haben etliche formvollendete Varianten voller Esprit gedreht; diese Tradition reicht bis heute. Erst vor wenigen Monaten gelang Regisseur Jacques Audiard mit „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ein wunderbar verführerischer Viererbeziehungs-Liebesreigen; da stimmte jede Einstellung, jede Bemerkung saß. Dass man eine ähnliche Konstellation völlig vergeigen kann, beweist Regisseurin Bourgeois-Tacquet: Ein bisschen bi reicht eben nie.