Valeria Bruni Tedeschi

Der Sommer mit Anaïs

Anaïs (Anaïs Demoustier, re.) ist ganz vernarrt in die Autorin Emilie (Valeria Bruni Tedeschi). Foto: © Les Films Pelléas - Année Zéro
(Kinostart: 21.7.) Bisexueller Backfisch: Eine schwatzsüchtige Doktorandin macht sich im Eiltempo an eine Erfolgsautorin heran. In der plump konstruierten Erotikkomödie von Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet wirkt alles ausgedacht und reizlos – das dürfte niemanden umgarnen.

Anaïs (Anaïs Demoustier) rennt. Weil sie immer zu spät dran ist, fegt sie durch Straßen, hastet über Gänge und trippelt über Treppen. Das soll wohl dem Film irgendwie jugendlichen Schwung verleihen und kaschieren, dass sich eigentlich herzlich wenig tut. Wie Anaïs’ Wortschwall: Jeden, der ihr begegnet, überschüttet sie ungefragt mit allem, was ihr durch den Kopf geht. Auch diese Mitteilungswut hat einen dramaturgischen Zweck: Sie redet so viel, weil sie im Grunde wenig zu sagen hat.

 

Info

 

Der Sommer mit Anaïs 

 

Regie: Charline Bourgeois-Tacquet,

98 Min., Frankreich 2021;

mit: Anaïs Demoustier, Valeria Bruni Tedeschi, Denis Podalydès

 

Weitere Informationen zum Film

 

Bei solchen Gestalten spricht man gern von „liebenswürdiger Chaotin“. Als nachsichtiger Untertreibung für eine rechte Nervensäge: Anaïs’ Aktionismus ändert ständig die Richtung. Flatterhaft wechselt sie nicht nur Wünsche und Absichten, sondern auch ihre Partner. Dass diese backfischhafte 30-Jährige, die keine Minute bei der Sache bleiben kann, angeblich seit Jahren an einer Doktorarbeit über Liebesbrief-Literatur im 18. Jahrhundert feilt, lässt sich nur als schlechter ADHS-Witz bezeichnen.

 

Geliebten im Aufzug kennenlernen

 

Weniger Geduld hat sie mit ihrem festen Freund Raoul. Als der erfährt, dass sie schwanger ist, und Mitspracherecht verlangt, ob sie abtreiben soll – wie sie es will – oder nicht, lässt sie ihn einfach stehen. Eine Zufallsbekanntschaft, die sie im Aufzug (!) kennenlernt, kürt sie flugs zu ihrem nächsten Geliebten: Wie und womit der ältliche Daniel (Denis Podalydès) ihre Sinne betört haben soll, bleibt völlig rätselhaft.

Offizieller Filmtrailer


 

Spaziergang führt ins Porno-Kabinett

 

Der Verleger ist seit langem mit der Erfolgsautorin Émilie (Valeria Bruni Tedeschi) liiert. Als Anaïs ein Porträtfoto ihres Nackens (!) entdeckt, fängt sie Feuer; als sie ein TV-Interview mit ihr sieht, ist sie endgültig hingerissen. Und lässt alles andere fallen, um wie ein Groupie ihrem Star nachzustellen – dass sie gleichzeitig für ihren Doktorvater eine wissenschaftliche Konferenz vorbereiten soll, ist ihr schnuppe.

 

Anfangs ist Émilie etwas irritiert, wie beharrlich ihr neuer größter Fan um ihre Aufmerksamkeit wirbt; dann geschmeichelt. Beim Literatur-Kolloquium auf einem Landschloss kommen sich beide bei ausgedehnten Spaziergängen näher; passenderweise geraten sie in geheimes Kabinett voller pornographischer Drucke mit lesbischen Szenen aus dem 18. Jahrhundert. Am Strand passiert dann, was passieren muss. Beim Wiedersehen nach wochenlanger Wartezeit geschieht ebenso, was geschehen muss.

 

Sedierte Frühvergreiste spürt Begehren

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wo in Paris die Sonne aufgeht" – wunderbare Tragikomödie über eine Vierecksbeziehung von Jacques Audiard

 

und hier eine Rezension des Films "La belle saison – Eine Sommerliebe" – lesbisches Liebesdrama in den 1970er Jahren von Catherine Corsini mit Cécile de France

 

und hier eine Kritik des Films "Das bessere Leben – Elles" über Studentinnen-Prostitution von Małgorzata Szumowska mit Anaïs Demoustier

 

und hier ein Beitrag über den Film "Die Überglücklichen" – Porträt einer furiosen Frauenfreundschaft von Paolo Virzì mit Valeria Bruni Tedeschi

 

und hier einen Bericht über den Film "Tage am Strand" lesbisches Liebesdrama von Anne Fontaine mit Naomi Watts + Robin Wright.

 

Was ohnehin ziemlich gleichgültig ist: Bei boy-meets-girl-stories (oder girl-meets-girl-, wie hier), einem der ältesten Stoffe der Menschheit, kommt es weniger darauf an, was sich ereignet, als vielmehr darauf, wie es inszeniert wird. Ob der Zauber des überspringenden Funken, Irrungen und Wirrungen der Herzen und ihr windungsreicher Weg zueinander (oder voneinander weg) glaubwürdig und berührend erscheinen. Davon kann im Debütfilm von Regisseurin Charline Bourgeois-Tacquet keine Rede sein, in keiner einzigen Szene.

 

Alle Dialoge klingen ausgedacht und phrasenhaft; damit kann man keinen umgarnen. Alle Situationen wirken plump konstruiert; wie beim billigen Boulevard meint man, das Knallen der Türen zu hören, wenn Akteure auftreten und abgehen. Anaïs Demoustier, eine in Frankreich viel beschäftigte Schauspielerin, dürfte trotz aller Hektik selten so blass und ausdruckslos gewirkt haben wie hier. Star-Aktrice Valeria Bruni Tedeschi soll eine 56-Jährige spielen, schleppt sich aber wie eine Frühvergreiste durch die Szenen; kaum zu glauben, dass sie so sediert noch einmal bisexuelles Begehren verspürt.

 

Ein bisschen bi reicht nie

 

Wenn das französische Kino auf irgendein Filmgenre das Patent hält, dann auf federleichte Liebeskomödien. Regie-Legenden wie François Truffaut und Éric Rohmer haben etliche formvollendete Varianten voller Esprit gedreht; diese Tradition reicht bis heute. Erst vor wenigen Monaten gelang Regisseur Jacques Audiard mit „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ ein wunderbar verführerischer Viererbeziehungs-Liebesreigen; da stimmte jede Einstellung, jede Bemerkung saß. Dass man eine ähnliche Konstellation völlig vergeigen kann, beweist Regisseurin Bourgeois-Tacquet: Ein bisschen bi reicht eben nie.