Mai 1981: Einen Abend lang herrscht Aufbruchstimmung in einer bretonischen Kleinstadt. Sonst fühlt sich das Leben dort – zumindest für die junge Generation– eher bleiern an. An diesem Tag jedoch feiern sie den Wahlsieg des linken Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand. Philippe (toll: Thimotée Robart) schaut der Euphorie seiner Kumpels unbeteiligt zu. Als er gefragt wird, was los sei, gibt er zu, enttäuscht zu sein – er sei für den bürgerlichen Kandidaten Valéry Giscard d’Estaing gewesen.
Info
Die Magnetischen
Regie: Vincent Maël Cardona,
98 Min., Frankreich/ Deutschland 2021;
mit: Thimotée Robart, Marie Colomb, Joseph Olivennes
Weitere Informationen zum Film
DIY-Ethos der Post-Punk-Ära
Noch ist ihm die weite Welt gleichgültig. Seine ganze Energie steckt der Tüftler Philippe ins Radiomachen. Genauer gesagt: in den Piratensender, den er mit seinem älteren Bruder Jerôme (Joseph Olivennes) betreibt. Zusammen sind sie „Radio Warsaw“; entlehnt ist der Name von der ersten Inkarnation der später stilprägenden Band Joy Division. Dementsprechend ist ihr Sender geprägt vom DIY-Ethos der Post-Punk-Ära, in der sich Endzeitstimmung und kreativer Aufbruch aufs Produktivste rieben.
Offizieller Filmtrailer
Nebenbuhler seines Bruders
Schon morgens vor der Arbeit bastelt Philippe an Jingles. Ihn zieht es nicht vors Mikro, er ist lieber der Typ an den Reglern. Mit seinen avantgardistischen Soundcollagen kann er sich ohnehin besser ausdrücken als mit Worten. Wie sein Bruder schuftet er ansonsten in der Autowerkstatt des mürrischen Vaters. Anders als der gern aufbegehrende Jerôme hat er damit kein Problem.
Außerdem ist Philippe viel zu sehr damit beschäftigt, seine Gefühle zu sortieren. Vor allem jene, die er für Jerômes Freundin Marianne (Marie Colomb) hegt: In sie ist er heimlich verliebt. Das macht Jerôme zum Rivalen seines Bruders, dem er eigentlich vor allem Bewunderung entgegenbringt – obwohl oder gerade weil sie unterschiedlicher kaum sein könnten.
Abgehalfterter Kleinstadt-Platzhirsch
Jerôme lässt gerne den subversiven Freigeist heraushängen. Zugleich wirkt er trotz seiner jungen Jahre bisweilen wie ein abgehalfterter Kleinstadt-Platzhirsch – zu selbstverliebt, um die kleine Nische zu verlassen, in der er glänzen kann. Als Philippe seinen volltrunkenen Bruder mal wieder nachts nach Hause schleppen und vor dem Zorn des Vaters schützen muss, nennt Jerôme ihn einen „guten Soldaten“ – eine Geste, die in ihrer milden Herablassung das Verhältnis der Brüder auf den Punkt bringt.
Das Damoklesschwert, bald Wehrdienstleistender werden zu müssen, schwebt tatsächlich über Philippe. Der Einberufung versucht er sich zu entziehen, indem er bei der Musterung Mutismus simuliert: eine psychisch bedingte Kommunikationsstörung, die die Betroffenen verstummen lässt. Wie er mit diesem Plan krachend scheitert, ist eine der Szenen, in der ein vergnüglicher Humor in dieser sonst eher melancholisch grundierten Geschichte aufblitzt.
Momente des Dazwischen-Festhängens
Philippes Versuche, seine eigene Stimme zu finden, kommen weniger in den sparsamen Dialogen, als vielmehr in Off-Kommentaren zur Geltung, in denen er Einblicke in sein Seelenleben gibt. Dramaturgisch bewegt sich der Regisseur Vincent Maël Cardona abseits ausgetretener Pfade. Die ambivalente Atmosphäre des Films vermittelt sich über viele kleine Gesten und Momente des Dazwischen-Festhängens.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Sommer 85" - tragische Romanze über erste Jugendliebe von François Ozon
und hier eine Besprechung des Films "Call me by your Name" - atmosphärisch dichte schwule Liebesgeschichte in den 1980ern von Luca Guadagnino
und hier einen Beitrag über den Film "Der flüssige Spiegel" - Mystery-Drama von Stéphane Batut mit Thimotée Robart
und hier einen Bericht über den Film "Tod den Hippies – Es lebe der Punk!" über die Underground-Szene in Westberlin um 1980 von Oskar Roehler.
Gedeckelte Gefühle + ungelebtes Leben
Cardona gelingt es in seinem bemerkenswerten Debüt, den Geist einer Epoche aufleben zu lassen, mit viel Gespür für Feinheiten, aber ohne gängige 1980er-Jahre-Klischees. Nostalgie setzt er eher sparsam ein, obwohl bisweilen eine Sehnsucht nach analog entschleunigten Zeiten durchscheint. Auch wenn Philippe im Mittelpunkt steht, fallen etliche Szenen nuanciert vielstimmig aus – so wird der Film mehr als die Nabelschau eines leidenden jungen Manns.
Beispielsweise in der Szene, als Philippe beim Abschied vom hartleibigen Vater darüber sinniert, wie sehr er den Habitus von Alphamännern verachtet. Gleichzeitig erzählt das Gesicht des Vaters eine ganz andere Geschichte: von gedeckelten Gefühlen und ungelebtem Leben. Bei allem Schwermut im letzten Drittel – das Ende entlässt den Zuschauer mit leisem Optimismus. Philippe wird es zumindest ein bisschen besser machen.