Kassel

documenta fifteen: Fridericianum

Siwa Platforme – L’Economat at Redeyef: Darstellung ertrunkener Bootsflüchtlinge, 2022. Foto: ohe
Der Antisemitismus-Streit um die weltgrößte Ausstellung für Gegenwartskunst enthüllt die Provinzialität des Standorts. Dabei zeigt ein Rundgang durch das Fridericianum, in welche Richtung sich ein radikal erweiterter und entwestlicher Kunstbegriff entwickeln könnte – wenn man ihn lässt.

Wer über die documenta fifteen spricht, darf vom Antisemitismus-Streit nicht schweigen. Bislang hatte noch jede documenta ihre Aufreger-Themen und -Kunstwerke, doch keines wurde so zum nationalen Skandal hochgejazzt wie das monumentale Banner „People’s Justice“ von 2002 auf dem Friedrichsplatz, das „Taring Padi“ aufgestellt hatte; eine Aktivisten-Gruppe aus dem vorwiegend – aber moderat – muslimischen Indonesien.

 

Info

 

documenta fifteen

 

18.6.2022 – 25.09.2022

täglich 10 bis 20 Uhr

an 32 Standorten in Kassel

 

Katalog 25 €

 

Website zur documenta 15

 

Darauf war unter Dutzenden von Figuren auch eine Visage mit Reißzähnen, Zigarre, Schläfchenlocken und SS-Runen auf dem Hut zu sehen, die von vielen als Klischee eines Ausbeuter-Juden im Stil des „Stürmer“-NS-Hetzblatts interpretiert wurde. Außerdem, in einer Reihe von Killer-Cops, eine Gestalt mit Schweinsgesicht und „Mossad“-Schriftzug auf dem Helm – neben solchen, deren Helme andere Geheimdienst-Namen trugen, darunter „KGB“ und „007“.

 

Stufe zehn auf der Empörungsskala

 

Der Sturm der Entrüstung war orkanartig. Binnen drei Tagen erreichte er Stufe zehn auf der nach oben offenen Empörungsskala: Alle möglichen Akteure verlangten, das Banner abzuhängen – was nach provisorischer Verhüllung auch geschah – und ausdrückliche Entschuldigungen von Taring Padi und dem ruangrupa-Kuratorenkollektiv. Der documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann und/ oder Kassels OB Christian Geselle in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzendem der documenta GmbH wurde vorgeworfen, sie hätten ihre Aufsichtspflichten verletzt.

Impressionen der Kunstausstellung im Fridericianum


 

Gerangel um Zuständigkeiten

 

Die Forderung nach ihrem Rücktritt oder ihrer Entlassung konterte Schormann, indem sie eine systematische Untersuchung der Ausstellung auf „weitere kritische Werke“ ankündigte. Inzwischen ist der Streit dort angekommen, wo derlei in unserem föderalen Staatswesen meistens landet: beim Gerangel um Zuständigkeiten. Kulturstaatsministerin Claudia Roth will mit einem Fünf-Punkte-Plan die Kontrolle übernehmen, weil es „bei der documenta keinen Antisemitismus wie auch keinen Rassismus und keine Formen der Menschenfeindlichkeit geben darf“. Schormann und Geselle sperren sich gegen Zensur und Entmachtung. Das Weitere werden Arbeitsgruppen regeln; man gebe ihnen fünf Jahre Zeit.

 

Eine sehr deutsche Affäre, die Taring Padi und ruangrupa überrollte und überforderte. Weder half ihr Hinweis, das 20 Jahre alte Banner – dessen Maler inzwischen verstorben ist – sei keineswegs antisemitisch gemeint; es zeige allerlei Buhmänner als Repräsentanten der Mächte, die den indonesischen Diktator Suharto von 1967 bis 1998 gestützt hätten. Noch entlastete sie ihr Argument, Tierfratzen wie Schweine und Ratten stünden in Indonesien symbolisch für Gewalt. Nein: Beiden Gruppen wurde vorgehalten, sich nicht vorab erkundigt zu haben, was in Deutschland als antisemitisch betrachtet werde und folglich unzumutbar sei.

 

Wo Kunstfreiheit endet, bestimmen wir

 

Will heißen: Die documenta mag eine Weltkunstausstellung sein, doch bei allen „Formen der Menschenfeindlichkeit“ gelten allein heimische Standards – die sind bekanntlich höchst anspruchsvoll. Von Ausländern wird erwartet, auf deutsche Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Zuvor hatten bereits die „Guernica Gaza“-Gemälde, auf denen der palästinensische Künstler Mohammed Al Hawajri israelische Soldaten in klassische Genremalerei-Motive montierte, Anstoß erregt: die von NS-Bombern 1937 zerstörte Stadt und der Gaza-Streifen in einem Bildtitel? Das muss antisemitisch sein! Wo Kunstfreiheit endet, bestimmen wir.

 

Laut Strafgesetzbuch tut sie das bei Beleidigungen und Volksverhetzung. Dazu muss eine Absicht des Täters vorliegen. Wenn Taring Padi glaubhaft versichert, ihr Banner habe keine antisemitische Ausrichtung, was von ihrer sonstigen, üppig ausgebreiteten Bildproduktion bekräftigt wird: Sollte man der Gruppe nicht lautere Intentionen zubilligen? Manche – meist ausländische – Stimmen empfahlen, das Banner hängen zu lassen und die inkriminierten Motive mit Kommentaren zu versehen – als optische Stolpersteine für fruchtbare Besucher-Diskussionen. Sie drangen angesichts des hysterischen Anti-Antisemitismus hierzulande nicht durch.

 

Hiesiger Kulturbetrieb als Maß aller Dinge

 

Die ganze Auseinandersetzung enthüllt eine überwunden geglaubte Provinzialität. Ruangrupa wurden als künstlerische Leiter wegen ihrer eindeutig nichtwestlichen Perspektive engagiert; zudem berief man ein Kollektiv, um die fragwürdige Fixierung auf einzelne Kuratoren und deren alleinseligmachende Bestandsaufnahmen hinter sich zu lassen. In diesem Sinne agierten die Indonesier: Sie holten weitere Kollektive an Bord und überließen ihnen die Aufteilung pauschaler Budgets wie die Auswahl der Werke.

 

Was immer man von diesem unhierarchischen und gemeinschaftsorientierten Netzwerk-Aktivismus halten mag: Er wird konsequent durchgehalten, unter Umgehung des herkömmlichen Kunstmarkts. Das etliche Beteiligte völlig andere Vorstellungen von Gebotenem und Verwerflichem haben, als in Mitteleuropa üblich sind, liegt in der Natur der Sache – das Gegenteil wäre verwunderlich. Ihnen vorzuhalten, dass nicht alle der mehr als 1000 Exponate den Claudia-Roth-Kriterien für Menschenfreundlichkeit genügen, zeugt von erheblicher Borniertheit im hiesigen Kulturbetrieb – der sich offenkundig immer noch für das Maß aller Dinge hält. Refugee artists welcome! Solange sie genauso ticken wie wir.

 

Beißreflexe gegen Abschaffungs-Ängste

 

Die Arroganz, mit der ausgewiesene Kunstkenner wie diverse Antisemitismus-Beauftragte oder das „American Jewish Committee Berlin“ detaillierte Anweisungen erteilten, wie zu verfahren sei, macht deutlich: Es geht um mehr als zwei Männchen auf einem Agitprop-Plakat. Zur Debatte steht die kulturelle Hegemonie im Kunstbereich, durchaus auf globaler Ebene. Werden weiterhin weiße alte Männer – oder Frauen oder Trans-Personen – in Städten wie Kassel, Venedig, Basel und Miami dem Rest der Welt präsentieren, was als relevante Kunst zu gelten hat?

 

Oder übernehmen diffuse Assoziationen aus dem „globalen Süden“ das Ruder und definieren Kunst um: als Experimentierfeld und safe space für gemeinnützige Praktiken, die anders unter den repressiven Bedingungen ihrer Herkunftskulturen nicht zu realisieren sind? Mit solcher Kunst lässt sich ebenfalls kommerziell handeln, aber ähnlich wie mit Anteilsscheinen an karitativen Projekten. Dafür braucht man weder Großgaleristen noch -kritiker. Die Beißreflexe der Feuilletons mancher Intelligenzblätter gegen die documenta fifteen dürften auch dadurch bedingt sein, dass sie befürchten, mittelfristig überflüssig zu werden.

 

Kinderkrippe + Fortbildungsangebote

 

Wie ein radikal erweiterter und entwestlicher Kunstbegriff aussehen könnte, zeigt sich anschaulich im Fridericianum. Im traditionellen Zentralbau der documenta sind 21 Teilnehmer versammelt, mehr als an jedem anderen der 32 Ausstellungsorte; fast alle genügen den lumbung-Prinzipien von ruangrupa. Von der Wiege bis zur Bahre: Graziela Kunsch hat eine Kinderkrippe eingerichtet, in der Babys gemäß Reform-Methoden aus Ungarn betreut werden.

 

Nebenan kümmert sich „Gudskul“ um ältere Knirpse: Das halbe Erdgeschoss ist voller Stellwände mit Grafiken und Stickern, Sitzecken mit Spielen laden zum Verweilen ein. Die Schüler sollen hier vor allem soziale Fertigkeiten und Selbstorganisation lernen. Für alphabetisierte Besucher werden im ersten Stock Fortbildungsmöglichkeiten angeboten: „Keleketla! Library“ macht mit Kulturarbeit in Südafrika vertraut, „Centre d’Art Waza“ stellt das pulsierende kulturelle Leben in der kongolesischen Regionalmetropole Lubumbashi vor.

 

Rückblick auf freies Hongkong

 

Wer auf einer Ausstellung vor allem die Präsentation fertiger Exponate erwartet, wird gegenüber bedient. Das „Asia Art Archive“, um 2000 in Hongkong gegründet, fächert die Bandbreite des dortigen Kulturbetriebs auf: von filigranen Scherenschnitten mit mythologischen Motiven über Fotoserien bis zu gewagten Performances auf Video. Angesichts der jetzigen Gleichschaltung dürften etliche der Künstler mittlerweile emigriert oder verstummt sein.

 

Materialsammlungen bieten hingegen die „Archives des Luttes des Femmes en Algérie“ zur weiblichen Beteiligung an algerischen Protestbewegungen seit 1962 sowie „The Black Archives“ aus Amsterdam: Sie zeichnen ein weiteres Mal die jahrhundertelange Diskriminierung von Schwarzen nach – auch in Surinam. Aktuelle Missstände dokumentiert „Siwa plateforme – L’Economat at Redeyef“; die gleichnamige tunesische Stadt zählt zu den ärmsten des Maghreb-Landes.

 

Klassische Aura im Roma-Saal

 

Und Kunst im Sinne von Öl auf Leinwand? Gibt es ebenfalls: En gros bei den britischen „Project Art Works“, die „neurodiverse Menschen“ – also geistig Behinderte oder Autisten – mit Pinseln oder Ton arbeiten lassen. Ergebnisse dieser farbenfrohen Kunsttherapie sind stapelweise zu besichtigen. Zielgerichteter geht der Australier Richard Bell vor, der vor dem Fridericianum ein „Aboriginal Embassy“-Zelt errichtet hat: In Pop-Art-Manier malt er Aborigines, die lautstark die Rückgabe ihrer Ländereien einfordern.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "documenta fifteen" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst-Ausstellung 2022 in Kassel

 

und hier ein Beitrag über die "Documenta. Politik und Kunst: Geschichte 1955 bis 1997"- im Deutschen Historischen Museum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier ein Bericht über die "dOCUMENTA (13)" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2012 in Kassel

 

Eine geradezu klassische Aura zeichnet den Saal der „Off-Biennale Budapest“ aus. Blickfang ist ein wandfüllendes Gemälde, das Tamás Péli 1983 auf vier Faserplatten aufgetragen hat: „Geburt“ zeigt einen fiktiven Schöpfungs-Mythos der Roma. Im dekorverliebten Historismus-Stil des 19. Jahrhunderts, den etwa der ungarische Malerfürst Mihály von Munkácsy (1844-1900) perfekt beherrschte. Indem Péli daran anknüpft, macht er quasi dessen populäre Würdezeichen auch für Roma geltend, die am stärksten diskriminierte Minderheit in Europa.

 

Wer will documenta 16 leiten?

 

Weitere Werke von Künstlern verschiedener Generationen runden diese kleine Retrospektive der Roma-Kultur ab; ergänzt wird sie von prächtigen Quilt-Wandteppichen der polnischen Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas im Vorraum. Dieses Ensemble leistet am ehesten, was ruangrupa vorschweben mag: vom Kunstbetrieb bislang ignorierten Gruppen und Ethnien ein Forum zu geben, auf dem sie vielfältige Artefakte adäquat zur Geltung bringen können.

 

Der Brückenschlag zwischen sozialem Engagement und Kulturproduktion, die avancierten ästhetischen Ansprüchen genügt, gelingt der Budapester Vereinigung mühelos; sie strebt ein Museum der transnationalen Roma-Kunst an. Doch so weit sind längst nicht alle Teilnehmer. Und es erscheint fraglich, ob in fünf Jahren Fortschritte zu besichtigen sein werden: Nachdem mit dem ruangrupa-Kollektiv als künstlerischem Leiter so rüde umgesprungen wurde – wer mag sich diesen Job noch antun?