Zhang Yimou

Eine Sekunde

Auf der Suche nach dem wichtigsten Filmbild: Zhang Jiusheng (Zhang Yi) und Orphan Liu (Haocun Liu). Foto: Mubi
(Kinostart: 14.7.) Zeitgeschichts-Narben lassen sich nicht wegwaschen: Während der Kulturrevolution will ein Häftling seine Tochter im Kino sehen – und gerät in eine Propaganda-Dauerschleife. Seine wundervoll doppelbödige Tragikomödie trug Regisseur Zhang Yimou arge Probleme mit der Zensur ein.

Der totgeschwiegene Totalitarismus: Die von Mao Zedong 1966 entfesselte Kulturrevolution mit einer halben bis eineinhalb Millionen Toten und rund 30 Millionen Opfern binnen zehn Jahren kommt im Kino kaum vor. Im Westen nicht, weil das Phänomen zu entlegen und undurchsichtig wirkt. Und in China nicht, weil die heutige KP-Spitze diese Ära als „Fehler in Theorie und Praxis“ kleinredet und ansonsten ignoriert.

 

Info

 

Eine Sekunde

 

Regie: Zhang Yimou,

104 Min., China 2020;

mit: Zhang Yi, Fan Wei, Haocun Liu

 

Weitere Informationen zum Film

 

Das war vor einem Vierteljahrhundert anders. Von Ende der 1980er bis in die 2000er Jahre, gleichsam in Chinas Perestroika-Phase, wurden dort etliche Filme über Aspekte und Folgen der Kulturrevolution gedreht – sie betrafen die meisten vor 1960 Geborenen. Ohne direkte Kritik an der Parteiführung, aber mit viel Empathie für die Aus- und Nachwirkungen: Der kollektive Amoklauf hatte zahllose Kulturgüter zerstört und Lebensläufe beschädigt.

 

Zhangs Debüt gewinnt Goldenen Bären

 

Auch den von Zhang Yimou: Da sein Vater zu den Kuomintang-Truppen gezählt hatte, die im Bürgerkrieg den Kommunisten unterlagen, musste er zehn Jahre lang als Landarbeiter in der Provinz schuften. Erst mit 28 Jahren wurde er zur Filmakademie in Beijing zugelassen. Sein Debütfilm „Rotes Kornfeld“ gewann 1988 überraschend als erster chinesischer Spielfilm den Goldenen Bären – im Nu wurde Zhang zur Galionsfigur des chinesischen Autorenkinos.

Offizieller Filmtrailer


 

Große Kino-Epen in den 2000er Jahren

 

Mit so prachtvollen wie raffinierten Werken über historische Sujets wie etwa „Rote Laterne“ (1991) oder „Shanghai Serenade“ (1995) heimste er in den 1990er Jahren zahlreiche Preise ein. In den 2000er Jahren wandte sich Zhang aufwändigen Wuxia-Produktionen zu, dem chinesischen Kampfkunst-Genre: „Hero“ (2002) oder „House of Flying Daggers“ (2004) wurden für ihre opulente Ausstattung und präzise Choreographie gelobt. Spätere Arbeiten wie „The Flowers of War“ (2011) über die japanischen Massaker in Nanking 1937 oder das Fantasy-Spektakel „The Great Wall“ (2016) fielen deutlich schwächer aus.

 

Den Eindruck, Zhang sei zum Hof-Impresario der Parteielite mutiert, verstärkten Aktivitäten wie seine Regieführung bei den Eröffnungs- und Schlussfeiern der Olympischen Spiele 2008 oder bei Opern- und Musical-Inszenierungen mit Hunderten von Mitwirkenden. 2014 drehte Zhang allerdings seinen ersten Film über die Kulturrevolutions-Epoche: In „Coming Home“ wird ein Rückkehrer aus einem Arbeitslager von der Tochter verraten und seiner Gattin nicht wieder erkannt.

 

Grenzen des Neomaoismus austesten

 

Sein zweiter Film mit Kulturrevolutions-Thematik sorgte 2019 für einen Eklat. „Eine Sekunde“ sollte im Februar als Abschluss des Berlinale-Wettbewerbs gezeigt werden, wurde aber vier Tage vor der Premiere zurückgezogen – angeblich wegen „technischer Probleme bei der Post-Produktion“. Im Oktober kehrte Zhangs Team in die westchinesische Oasenstadt Dunhuang nahe der Wüste Gobi zurück, um Szenen nachzudrehen.

 

Ende November 2020 lief der Film regulär und erfolgreich in Chinas Kinos an. Was genau den Zorn chinesischer Zensoren erregt hatte, ist unbekannt. Doch die freigegebene Version lässt erkennen, dass der Regisseur die Grenzen dessen austestet, was unter der neomaoistischen Herrschaft von Xi Jinping noch zulässig ist.

 

Aus Filmrolle Lampenschirm basteln

 

Der Sträfling Zhang Jiusheng (Zhang Yi) wurde wegen einer Schlägerei vor acht Jahren interniert; er flieht aus dem Arbeitslager, um eine ganz bestimmte Filmrolle zu ergattern. Sie enthält die Wochenschau, die zusammen mit dem Kriegsfilm „Heroische Söhne und Töchter“ über die Dörfer geschickt wird, als Wanderkino für die Landbevölkerung.

 

Dummerweise kommt ihm das Waisenkind Liu (Liu Haocun) – viele Kinder verloren in der Kulturrevolution ihre leiblichen Eltern – zuvor: Das Mädchen stibitzt die Rolle, um für ihren kleinen Bruder daraus einen Lampenschirm zu basteln. Zhang jagt ihr nach; zwischen beiden entspinnt sich ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem mal er, mal sie die Oberhand behält.

 

Hommage an die Materialität des Kinos

 

An der nächsten Station kommt die begehrte Rolle in beklagenswertem Zustand an. Der Sohn des „Kino-Onkels“ (Fan Wei) hat sie auf seinem Pferdekarren transportiert; das Filmband löste sich und wurde kilometerweit durch den Staub geschleift. Um es zu reinigen, trommelt der Filmvorführer das örtliche Kollektiv zusammen. Die Szenen, in denen die Dörfler eifrig viele Zelluloid-Meter waschen, putzen und trocknen, sind eine selten schöne Hommage an die Materialität des Kinos.

 

Dann beginnt die Vorführung im Kultursaal. Der Kriegsfilm interessiert Zhang kaum; er fiebert der Wochenschau entgegen. Trotz aller Sorgfalt sind ihre Schwarzweiß-Bilder fleckig und zerkratzt – die Narben der Zeitgeschichte lassen sich eben nicht wegwaschen. Endlich erblickt der entlaufene Häftling das Ersehnte: Seine Tochter trägt einen Mehlsack über die Leinwand. Diese eine Sekunde will er immer wieder sehen. Dafür montiert der Vorführer den Filmstreifen zu einer Schleife – das klassenkämpferische Fortschrittspathos der Wochenschau wiederholt sich endlos.

 

Unüberbietbar lächerlicher Epilog

 

In der Erstfassung soll Zhangs Tochter bereits gestorben sein, was seine Sehnsucht nach ihrem Anblick motiviert. Diese Information fehlt nun; offenbar galt sie als zu negativ. Nichtsdestoweniger ist der gehetzte Mann, der jahrelange Haftverlängerung riskiert, um sich eine Nacht lang von immer denselben Propaganda-Phrasen zudröhnen zu lassen, ein schauerliches Symbol: Dem Mühlrad (neo-)maoistischer Machtausübung entkommt keiner.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des  Films "The 800" – neomaoistisches Monumental-Epos über die Schlacht um Schanghai 1937 von Hu Guan, kommerziell erfolgreichster Film 2020

 

und hier eine Besprechung des Films "The Great Wall" – Fantasy-Historienfilm-Spektakel an der chinesischen Mauer von Zhang Yimou

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Arbeiten in Geschichte – Zeitgenössische chinesische Fotografie und die Kulturrevolution" – Vergangenheitsbewältigung auf Chinesisch im Museum für Fotografie, Berlin

 

und hier einen Beitrag über den Film "Bis dann, mein Sohn" - bewegendes Familien-Epos über Chinas Turbo-Modernisierung von 1980 bis 2010 von Wang Xiaoshuai.

 

Zumal er schließlich von einem Lager-Kommando festgesetzt und durch die Wüste abgeführt wird – ein so schlüssiges wie trostloses Ende. Dem ein Epilog folgt, der an Lächerlichkeit kaum zu übertreffen ist: „Zwei Jahre später“ wird Zhang freigelassen und trifft Liu. Beide suchen stumm in der Wüste nach einem kurzen Filmstreifen mit dem Antlitz seiner Tochter. Natürlich ist er längst verloren – macht nichts: Das Duo lächelt harmonisch mild in die Kamera.

 

Roter Schwanz in Sino-Spielart

 

Diese Schlusseinstellung in plötzlich leuchtenden Farben – der übrige Film ist in Erdtönen gehalten – und das bizarre Schweigen der Akteure stellen klar, wie künstlich die letzten Minuten angeklebt wurden. Man tut dem Regisseur wohl kaum Unrecht, wenn man das als chinesische Spielart dessen auffasst, was früher in der DDR „roter Schwanz“ hieß: ein Lippenbekenntnis zur aktuellen Parteilinie, gern mit Marx-Zitaten garniert, um ansonsten anspruchsvolle Werke durch die Zensur zu bugsieren.

 

Vielleicht hat sich Zhang Yimou in der Figur des Kino-Onkels selbst porträtiert: Als leidenschaftlicher Kinokenner versteht er des Sträflings Wunsch und hilft ihm bereitwillig. Andererseits achtet er darauf, sich mit allen Parteikadern gut zu stellen, um seine Vorführer-Position nicht zu verlieren. Dass selbst Chinas Star-Regisseur, der parallel teure Action-Blockbuster dreht, mit dieser wundervoll doppelbödigen Arbeit in arge Schwierigkeiten geriet, lässt vermuten: „Eine Sekunde“ könnte der letzte Kulturrevolutions-Film für lange Zeit sein.

 

Ab 16. September bei MUBI.