Emma Thompson

Meine Stunden mit Leo

Leo Grande (Daryl McCormack) und Nancy Stokes (Emma Thompson) finden Gefallen aneinander. Foto: Wild Bunch
(Kinostart: 14.7.) Erotik-Nachhilfe für ein spätes Mädchen: Eine frühere Lehrerin will mehr Freuden der Liebe kennenlernen. Sie engagiert einen Callboy, der seine Sache gut macht – zu gut. In der Sittenkomödie von Regisseurin Sophie Hyde trösten glänzende Darsteller über Schwächen der Dialoge hinweg.

Besser spät als nie: Nancy Stokes (Emma Thompson) ist eine pensionierte Religionslehrerin. Nach dem Tod ihres Gatten muss sie feststellen, dass sie noch nie tiefes sexuelles Vergnügen erlebt hat. Fortan wolle sie nie wieder einen Orgasmus vortäuschen, sagt sie dem jungen Callboy Leo Grande (Daryl McCormack), den sie online zu sich bestellt hat. Er soll sie in die Spielarten der Liebe einführen, denn sie kennt nur die Missionarsstellung. Oralsex hatte ihr Mann als würdelos abgelehnt.

 

Info

 

Meine Stunden mit Leo

 

Regie: Sophie Hyde,

97 Min., Großbritannien 2022;

mit: Emma Thompson, Daryl McCormack, Isabella Laughland

 

Weitere Informationen zum Film

 

Mit viel Einfühlungsvermögen gelingt es Leo, Nancys Unsicherheit auszuräumen. Aus einem ersten Date wird mehr. Allmählich kommen sich beide näher, bis ihre Intimität über die körperliche hinausgeht. Doch Leo hält aus gutem Grund an professioneller Distanz fest, während Nancy schließlich eine Grenze überschreitet.

 

Keine Tour de Force durch Klischees

 

Junger Galan belehrt unerfahrene Frau: Das könnte leicht zur peinlichen Tour de Force durch Klischees über weibliche Sexualität, Prostitution und gesellschaftliche Konventionen werden. Dass der Film das vermeidet, verdankt sich in erster Linie der schauspielerische Leistung beider Darsteller. Von Szene zu Szene entwickeln sie ihre Charaktere mit facettenreicher Mimik, Sprechrhythmus und Körperhaltung. Thompson und McCormack locken sich gegenseitig aus der Reserve, bis sich ein Gleichgewicht zwischen ihnen einstellt.

Offizieller Filmtrailer


 

Vertrauensbruch rührselig aufgelöst

 

Zuvor ist die Balance auf der einen oder anderen Seite gestört. So bröckelt beispielsweise die aalglatte Fassade von Leo Grande, die ihn als selbstsicheren Liebhaber zeigen soll, der über jegliche Vorurteile erhaben ist. Dabei macht McCormack subtil sichtbar, wie verletzlich seine Figur ist. Obwohl sie erstaunlich lange und glaubwürdig souverän und professionell bleibt, während Nancy immer mehr die Trennlinie zwischen seinem beruflichen und privatem Ich ignoriert.

 

Allerdings enttäuscht ein wenig, wie der Film mit diesem dramaturgischen Höhepunkt umgeht. Was Leo als schlimmen Vertrauensbruch betrachtet, nimmt das Drehbuch nicht sonderlich ernst. Genauer: Es löst ihn in einer rührselige Versöhnungsszene auf, die beide recht oberflächlich erscheinen lässt. Offenbar fehlt Regisseurin Sophie Hyde der Mut, mehr Konfrontation zu wagen.

 

Liste mit Sexpraktiken abarbeiten

 

Auch die Dialoge sind im Grunde banal. Besonders vorhersehbar wirkt das Thema von Leos fiktiver Identität. Dass er seine Mutter glauben lässt, er arbeite eigentlich auf einer Bohrinsel, darf als billiger Kalauer gelten – die symbolische Verbindung zum Callboy-Beruf könnte kaum flacher sein. Andere Gesprächspassagen rutschen ebenso fast ins Dämliche ab.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe" – intergenerationelle Amour fou mit Sophie Rois von Nicolette Krebitz

 

und hier eine Besprechung des Films "Zimmer 212 - In einer magischen Nacht"  – musikalische Tragikomödie über Ehebrecherin, die junge Liebhaber bevorzugt, von Christophe Honoré mit Chiara Mastroianni

 

und hier einen Bericht über den Film "The Party" – britische schwarzhumorige Gesellschafts-Komödie von Sally Potter

 

und hier eine Kritik des Films "Touch Me Not" - Dokudrama über eine Frau, die ihren Körper neu entdeckt, von Adina Pintilie, Berlinale-Siegerfilm 2018

 

und hier einen Beitrag über den Film "Die schönen Tage" – leichthändiges Liebesdrama von Marion Vernoux mit Fanny Ardant + jungem Liebhaber.

 

Bei allem Geplänkel behält der Film seinen Reiz, was vor allem an Emma Thompson liegt: Sie verkörpert die biedere Lehrerin mit trockenem Witz. Schon in einer der ersten Einstellungen ist sie in Höchstform, wenn sie nervös auf dem Sofa hin- und herrutscht, eilig ihr Sektglas leert und wie ein Wasserfall auf Leo einredet. Beim zweiten Treffen mit Leo holt sie eine Liste mit verschiedenen Sexualpraktiken hervor, die sie „der Vollständigkeit halber“ ausprobieren will. Gegen Ende nimmt man ihr das neu erlangte Bewusstsein für ihren eigenen Körper ab.

 

Hotelzimmer als safe space

 

Außerdem kommt „Meine Stunden mit Leo“ eine strenge, einheitlich durchgehaltene Form zugute. In für die Akteure emotional aufwühlenden Momenten ist die Kameraführung suggestiv bewegt, dann wieder ruhiger. Dabei wirkt die Inszenierung zügig, so dass keine Längen entstehen. Ausschließlich im Hotelzimmer angesiedelt, erhöht der einzige Spielort das Gefühl der Intimität zwischen den Protagonisten. Dort haben sie einen geschützten Raum, in dem sie sich aufeinander einlassen können.

 

Dieses Konzept erinnert an die klassische Theaterästhetik der Einheit von Zeit, Ort und Handlung – hier sind es drei Akte plus Epilog. Ähnlich wie in der schwarzhumorigen Sittenkomödie „The Party“ (2017) von Sally Potter; im Vergleich dazu fehlt dem Film von Sophie Hyde etwas Spannung und Tiefgang. In ihren Werken ging es schon mehrfach um Sexualität und Geschlechterrollen, doch erstmals steht eine reife Frau im Mittelpunkt. Wer ihrem eindrucksvollen Auftritt zusieht, vergisst fast, dass sich die Geschichte von Pointe zu Pointe angelt.