München

Stille Rebellen – Polnischer Symbolismus um 1900

Edward Okuń: Wir und der Krieg, 1917–23, Öl auf Leinwand, 88 × 111 cm, Nationalmuseum in Warschau. Fotoquelle: © Kunsthalle München
Expedition in eine Terra Incognita gleich nebenan: Die Klassische Moderne unseres östlichen Nachbarlands ist hierzulande kaum bekannt. Die Kunsthalle stellt die Bewegung des „Jungen Polen“ in allen Facetten vor, von stimmungsvollen Landschaften bis zu Historien-Fantasy – anschaulich präsentiert und erklärt.

Eine grausige Koinzidenz: Vier Wochen vor Eröffnung dieser Ausstellung begann der russische Überfall auf die Ukraine. Seitdem bemerkt das deutsche Feuilleton, dass es im Osten Europas einen großen Flächenstaat mit 50 Millionen Einwohnern und quicklebendiger Kulturszene gibt: Reihenweise werden ukrainische Autoren, Theaterleute, Musiker und Filmemacher vorgestellt. Da dürfte man hoffen, dass etwas von diesem neu erwachten Interesse auch auf die Schau in der Kunsthalle München überspringt.

 

Info

 

Stille Rebellen - Polnischer Symbolismus um 1900

 

25.03.2022 - 07.08.2022

täglich 10 bis 20 Uhr

in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, Theatinerstr. 8, München

 

Katalog 35 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Es wäre höchste Zeit. Polnische Kunst von ihren Spitzenleistungen in Gotik und Renaissance bis zur Gegenwart wird hierzulande mit einer Beharrlichkeit ignoriert, dass es an bösen Willen grenzt. Das gilt auch für die hier betrachtete, äußerst fruchtbare Epoche um die vorvergangene Jahrhundertwende: Die letzte Ausstellung polnischer Malerei um 1900 war hierzulande vor 25 Jahren zu sehen, in Baden-Baden. Kein deutsches Museum besitze ein Hauptwerk der damals maßgeblichen Künstler, bedauert Kunsthallen-Direktor Roger Diederen.

 

Entwicklungshilfe für deutsches Publikum

 

Insofern leistet sein Haus echte Entwicklungshilfe für das deutsche Publikum. Mit rund 130 Gemälden von 30 Künstlern – vorwiegend Leihgaben der Nationalmuseen in Warschau, Krakau und Posen – deckt die Ausstellung sämtliche wichtigen Strömungen und Stilrichtungen der Zeit zwischen 1890 und 1918 ab; also den knapp drei Dekaden vor Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität.

Feature zur Ausstellung; © BR


 

Mit Hofnarren zum Malerfürsten werden

 

Seit 1795 war Polen 123 Jahre lang zwischen seinen Nachbarn Preußen/ Deutsches Reich, Russland und Habsburger Reich aufgeteilt. Der Widerstand des polnischen Volkes gegen die Besatzungsmächte prägte das gesamte 19. Jahrhundert. Mehrere gescheiterte Aufstände, nach denen große Teile der Elite emigrieren mussten oder in die Verbannung geschickt wurden, schufen zahllose Märtyrer und Mythen. Künstler fühlten sich verpflichtet, mit ihren Werken die nationale Identität zu stärken und ihre Landsleute für den Befreiungskampf zu motivieren.

 

Diese kulturelle Mobilmachung nahm ab der Jahrhundertmitte Fahrt auf. Ihr bedeutendster Protagonist in der Kunst wurde Jan Matejko (1838-1893): Mit riesigen Historien-Wimmelbildern, die geschichtliche Ereignisse frei interpretierten, wurde er Polens unbestrittener Malerfürst. Seinen Durchbruch hatte er 1862 mit dem Bild „Stańczyk“, das die Schau eröffnet: Ein legendärer Hofnarr des 16. Jahrhunderts sinniert mit düsterer Miene auf einem Stuhl. Soeben ist bekannt geworden, dass russische Truppen Smolensk eingenommen haben – den Hofstaat kümmert das nicht. Nur der Narr sorgt sich um die Zukunft der Nation.

 

Zwischen Polonia-Muse + Teufelskreis

 

Die Rolle des Künstlers als patriotischer Seher, der an die ruhmreiche Vergangenheit erinnert und zu heroischen Taten auffordert, herrschte ein Vierteljahrhundert vor. Nicht nur in Polen; auch die deutsche Kunst strotzte vor 1870 vor Anspielungen auf die erhoffte Einigung und danach auf künftige nationale Größe. Doch die Historienmalerei erschöpfte sich gegen Ende des Jahrhunderts: Künstler wollten nicht mehr nur Bannerträger des vaterländischen Aufbruchs sein, sondern strebten nach autonomem Ausdruck.

 

Das wird sehr deutlich bei den Werken von Jacek Malczewski (1854-1929), einer Leitfigur dieser Generation. Er malte sich mehrfach neben Visionen von Polonia, der Allegorie der Nation mit gefesselten Händen und an Stricken baumelnder Krone, als seiner Muse – doch zugleich wirkt der Künstler niedergedrückt und orientierungslos. Ähnlich beim virtuos komponierten „Teufelskreis“ von 1897: Der Künstler als Kind sitzt ratlos auf einer Leiter, während um ihn herum ein wilder Reigen aus Figuren von der Antike bis zu Zeitgenossen tanzt – kleiner Maler, was nun?

 

Polnischer Hamlet zupft Gänseblümchen

 

Offenbar überwand Malczewski bald seine Zweifel. Auf späteren Selbstporträts blickt er stolz, fast schon hochmütig den Betrachter an, oft flankiert von Gestalten aus Dichtung und Religion bis hart an der Kitschgrenze. Wie auf dem Großformat „Polnischer Hamlet. Porträt von Aleksander Wielopolski“ (1903): Zwischen einem ausgezehrten Weib in Ketten und einem rosig frischen in Freiheit zupft der gleichnamige Maler an einem Gänseblümchen, um über Polens Zukunft zu entscheiden. Solche Historien-Fantasy im Gewand des Symbolismus war um die Jahrhundertwende bereits ein Auslaufmodell.

 

Die Künstler des „Jungen Polen“, deren Bewegung sich 1898 formierte, suchten den Anschluss an das übrige Europa. Kein Wunder: Viele von ihnen hatten in Paris, München, Wien oder St. Petersburg studiert, etliche jahrelang im Ausland gelebt – ihnen waren die aktuellen Tendenzen vertraut. Manche lehnten sich an den Jugendstil an; das Spektrum reichte von arg süßlichen Knaben-Akten in freier Natur, die Frühlingserwachen personifizieren sollten, bis zur „Sich kämmenden Frau“ (1897), die Władysław Ślewiński (1856-1918) porträtierte: vom Haarschopf über die Arme bis zu den Füßen ist alles eine elegant fließende Bewegung.

 

Naturnahes Landleben der Huzulen

 

Auch die in Polen sehr geschätzte Landschaftsmalerei wies eine Vielzahl von Einflüssen auf: Ferdynand Ruszczyc (1870-1936) reduzierte seine Arbeiten, vergleichbar den Nabis-Malern, auf flächige, konturbetonte Bilder mit starkfarbigen Kontrasten, die Seelenzustände spiegeln sollten. Auf ähnlich Weise schufen Jan Stanislawski (1860-1907) und Konrad Krzyżanowski (1872-1922) bezaubernde Miniaturen von Feldern, Wasser und Wolken.

 

Stanisław Witkiewicz gewann der Tatra-Gebirgsregion eindrucksvoll düster-monochrome Ansichten ab. Und Józef Pankiewicz (1866-1940) tüpfelte 1890 seinen „Heuwagen“ vor Bergkulisse in postimpressionistischer Van-Gogh-Manier. In den rauen Ausläufern der Karpaten lieferte zudem das Bergvolk der Huzulen mit seinen aufwändigen Trachten und archaischen Bräuchen farbenfrohe Motive, um naturnahes Landleben zu idealisieren.

 

Versteinerter Druide + Drachenschlangen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Impressionismus in Russland – Aufbruch zur Avantgarde"gelungene Überblicksschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Dekadenz – Positionen des österreichischen Symbolismus"opulente Epochenschau im Unteren Belvedere, Wien

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Schönheit und Geheimnis" über den deutschen Symbolismus als andere Moderne in der Kunsthalle Bielefeld

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Tür an Tür. Polen – Deutschland: 1000 Jahre Kunst und Geschichte" mit Werken von Jan Matejko im Martin-Gropius-Bau, Berlin.

 

Viel Ansehen genossen aber weiterhin bedeutungsschwangere Variationen zu Sujets, die das Publikum aus Geschichte, Mythologie und Poesie kannte. Da gab es originelle Bildfindungen: Leon Wyczółkowski (1852-1936) bediente grassierende Vorzeit-Begeisterung 1894 mit einem „Versteinerten Druiden“ – der erhoffte Heilsbringer erhebt sich als Granit-Fels über einem Hügel. Edward Okuń (1872-1945) porträtierte sich samt Gattin in „Wir und der Krieg“ (1917/23) inmitten von wild attackierenden Drachenschlangen, während eine fiese Alte ihnen kostbare Lotosblüten abluchsen will.

 

Andererseits brachte die Fixierung auf das unheilvolle nationale Schicksal auch sagenhafte Geschichtsklitterung und schieren Schwulst hervor – solche Bildideen sind heutzutage nur noch in verschmockten Superhelden-Kinoepen zulässig. Zurecht spart die Kunsthalle solch plakatives Pathos nicht aus, sondern zeigt es genauso ausführlich wie stimmungsvoll Subtiles, um alle Facetten des „Jungen Polen“ vorzuführen. Wobei die Schau einen Kontrapunkt setzt mit dem Raum für Witold Wojtkiewicz (1879-1909); sein seltsamer Bilderzirkus voller Puppen und Krüppel in grellen Farben ist irgendwo zwischen James Ensor und Roland Topor angesiedelt.

 

Besucher machen sich rar

 

So wird die gesamte Bandbreite der Malerei dieser Epoche anschaulich. Leider sehen immer noch wenige hin: An einem Samstagnachmittag verliert sich nur ein knappes Dutzend Besucher in den Schausälen, die Hälfte von ihnen spricht Polnisch. Was muss eigentlich noch passieren, bis die Deutschen die Kunst in ihrem östlichen Nachbarland zur Kenntnis nehmen?