Carla Simon

Alcarràs – Die letzte Ernte

Die kleine Iris (Ainet Jounou) zwischen den geliebten Pfirsichbäumen. Foto: Piffl Medien
(Kino-Start: 11.8.) Wenn Pfirsichbäume dem Solarpark weichen müssen: Wie eine katalanische Obstbauern-Familie ihre Existenzgrundlage verliert, beobachtet Regisseurin Carla Simón so einfühlsam wie unsentimental – ihr flirrend vielschichtiges Modernisierungs-Dokudrama gewann den Goldenen Bären.

Landleben-Szenen in Alcarràs, einer kleinen Gemeinde im Süden Kataloniens. Der Sohn hat Mist gebaut, der Vater hört nicht auf zu schimpfen. Schließlich lässt Mutter Dolors (Anna Otin) wortlos ihre rechte Hand walten: Klatsch. Klatsch. Nach den beiden Ohrfeigen geht sie zurück ins Haus. Die stämmige Frau mit dem blonden Kraushaar hat genug Sorgen. Sie ist, wie häufig bei bäuerlichen Großfamilien, diejenige, die alle Fäden zusammenhält.

 

Info

 

Alcarràs –
Die letzte Ernte

 

Regie: Carla Simón,

120 Min., Spanien/ Italien 2022;

mit: Jordi Pujol Dolcet, Anna Otin, Xènia Roset

 

Weitere Informationen zum Film

 

Ihr Mann Quimet (Jordi Pujol Dolcet) hat es nicht leicht. Die Last der Verantwortung liegt ihm so schwer auf den Schultern, dass ihm der Rücken schmerzt. Keiner weiß, wie es am Ende der Saison weitergehen soll. Da der Familie Solé ein regulärer Pachtvertrag fehlt, wird sie die Pfirsichplantage rings um ihr Haus verlieren, die sie seit Generationen bewirtschaftet. Der Obstanbau ist wenig rentabel; die Bäume sollen einem modernen Solarpark weichen. Der Fortschritt lässt sich auch in der katalanischen Provinz nicht aufhalten.

 

Goldener Bär für viele Sujets

 

Vom Schicksal dieser Kleinbauern-Großfamilie erzählt „Alcarràs“ – und zugleich von viel mehr: Generationskonflikten und Pubertätsproblemen, illegal eingewanderten Pflückern aus Afrika und Dumpingpreisen im Großhandel, von den Tücken des Alterns und der Kindheit. All diese Sujets schneidet die spanische Regisseurin Carla Simón in ihrem zweiten Spielfilm mit leichter Hand an; dafür wurde ihr Film bei der Berlinale 2022 mit dem Goldenen Bären prämiert.

Offizieller Filmtrailer


 

Harter Alltag im Agrarsektor

 

Die schwelgerischen Außenszenen zeigen: Regisseurin Simón liebt die flirrende Hitze des Sommers, die karge Landschaft und das einfache Leben. All das fängt ihre Kamerafrau Daniela Cajías in Nah- und Panorama-Aufnahmen oder aus der Vogelperspektive ein. Dabei stellt die Natur nur die Kulisse für das Ensemble von Menschen, deren harten Alltag der Film beobachtet.

 

Ähnlich wie in ihrem Langfilmdebüt „Fridas Sommer“ 2018 zeichnet Simón mit enormem Fingerspitzengefühl die Binnenbeziehungen einer Familie im emotionalen Ausnahmezustand nach. Während sich Quimets Verzweiflung immer wieder in Wutausbrüchen entlädt und Sohn Roger (Albert Bosch) mit harter Arbeit um die Anerkennung des Vaters buhlt, verfällt der Großvater bei nächtlichen Spaziergängen über das Terrain in bewegendes Schweigen.

 

Unbefangene Laiendarsteller

 

Nicht alle Familienmitglieder halten an den Traditionen der Solés fest. Eine Protestaktion der lokalen Landwirte, die vom Großhandel höhere Ankaufspreise fordern, läuft ins Leere. Quimets Schwester Gloria und ihr Mann Rogelio sehen ein, dass es besser ist, mit der Zeit zu gehen: Immerhin schaffen Aufbau und Wartung der geplanten Photovoltaikanlage auch neue Arbeitsplätze.

 

Regisseurin Simón setzt für ihr einfühlsames Mehrgenerationenporträt ganz auf das natürliche, unbefangene Spiel ihrer Laiendarsteller. Sie durchleben sowohl kleine und große Probleme als auch unbeschwert glückliche Momente, wie sie zum wechselhaften Alltag einer intakten Großfamilie gehören. Etwa ein Grillessen mit geräucherten Schnecken, Badespaß am Swimmingpool und wilde Tänze auf dem alljährlichen Volksfest.

 

Wie Ferien auf dem Obstbauernhof

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Fridas Sommer" – sensibles Drama über sechsjährige Waise bei Stiefeltern von Carla Simón

 

und hier eine Bilanz der 72. Berlinale 2022 mit dem Goldenen Bären für "Alcarràs" von Carla Simón

 

und hier eine Besprechung des Films  "Mediterranea" – authentisches Drama über Obstpflücker-Immigranten in Süditalien von Jonas Carpignano

 

und hier einen Beitrag über den Film "Vier Leben" – brillante Milieustudie über traditionelles Landleben in Kalabrien von Michelangelo Frammartino

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Murcia: Im Garten Europas" im Museum Europäischer Kulturen, Berlin.

 

Dabei wirkt das Geschehen auf der Leinwand absolut authentisch, beinahe dokumentarisch. Gerade weil der Film kaum einen Aspekt des ländlichen Alltags ausspart, fühlt sich der Zuschauer wie in diese Familie aufgenommen, als verlebe er Ferien auf dem Obstbauernhof. Die eintönige Arbeit bei der Pfirsichernte geht allen Beteiligten an die Knochen. Doch das Miteinander im sonnendurchfluteten Freien ist auch von verständnisvollem Humor geprägt – und einer vorbehaltlosen Solidarität, die alle Spannungen überwindet.

 

Dagegen ließe sich einwenden, dass ein Ensemblefilm mit derart vielen Charakteren und Interaktionen untereinander Gefahr läuft, den Fokus zu verlieren und zu zerfasern. Also konzentriert Regisseurin Simón sich immer wieder auf den Großvater, als dem Garanten der Familienbande. Dass er resigniert dem Zerfall seines Lebenswerks zusehen muss, wird durch die geballte Energie und Neugier seiner Enkel ausgeglichen – wie Gewitterschauer, die drückende Sommerhitze erfrischend unterbrechen.

 

Bagger bedroht Spielparadies

 

Damit trifft der Film offenbar einen Nerv. Ihrem Überdruss an hoch abstrakten Technologien und entfremdeten Lebenswelten begegnen viele Menschen schon seit geraumer Zeit durch Flucht aufs Land: Gärtnern und Wandern sind sehr beliebt. Zugleich werden noch bestehende Reservate traditioneller Lebensweise zusehends von Turbomodernisierung bedroht – auch das zeigt „Alcarrás“ unsentimental, aber drastisch.

 

Gleich zu Beginn starren drei Kinder auf einen Bagger, der ihr Spielparadies bedroht. Damit kündigt sich die Katastrophe an: Die Angst und Verwunderung in ihren Gesichtern lassen einen so schnell nicht wieder los.