„Vieles ist im Leben Zufall, doch die meisten wollen Schicksal“, sang einst Jochen Distelmeyer mit seiner Band Blumfeld. Tatsächlich verfolgt die Frage „Was wäre gewesen, wenn?“ nicht nur Menschen, die sich wundern, wie sie eigentlich da hingekommen sind, wo sie gerade stehen. Das Verhältnis von Notwendigkeit und freiem Willen ist auch ein immer wiederkehrendes Thema in Literatur und Film.
Info
Das Glücksrad
(Wheel Of Fortune And Fantasy)
Regie: Ryusuke Hamaguchi,
121 Min., Japan 2021;
mit: Kotone Furukawa, Kiyohiko Shibukawa, Katsuki Mori, Fusako Urabe
Weitere Informationen zum Film
Kaleidoskop heutiger Liebeswelten
Dem zweiten Ansatz folgt der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi für „Das Glücksrad“. Drei sprachlastige Episoden setzt er zum Kurzgeschichten-Kaleidoskop heutiger Lebens- und Liebeswelten mit starken Frauenfiguren zusammen – wobei er bei seiner Inszenierung von Unwägbarkeiten des Liebeslebens nichts dem Zufall überlässt.
Offizieller Filmtrailer OmU
Beste Freundin verliebt sich in Ex
Der Film ist konsequent symmetrisch durchkomponiert. Jede der drei Episoden besteht aus drei Hauptszenen, die von sanft bewegten Aufnahmen urbaner Landschaften, üppiger Stadtnatur und durchgestylter Interieurs umspielt werden; die Übergänge untermalen Ausschnitte aus Robert Schumanns Klavierstück „Von fremden Menschen und Ländern“. Sie bilden Miniaturen, die wie die Filmepisoden selbst gleichfalls nur auf den ersten Blick einfach erscheinen.
Die erste Episode „Magie (oder etwas weniger Zuverlässiges)“ behandelt eine komplizierte Dreiecks-Konstellation: Die junge Meiko (Kotone Furukawa) hat vor eineinhalb Jahren ihren Freund verlassen. Doch ausgerechnet ihre beste Freundin Tsugumi (Hyunri) hat sich in ihren Ex verliebt – was Maiko dazu bringt, wieder auf ihre Gefühle für den Verlassenen zu achten, mit unerwarteten Folgen.
Schulzeit-Liebe 20 Jahre später
In der zweiten Episode „Die Tür bleibt offen“ geht es darum, wie man die Kontrolle über das eigene Leben und Werk behält – oder daran scheitert. Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) ist ein angesehener, preisgekrönter Schriftsteller. Doch der Student Sasaki will sich für seinen vermasselten Abschluss an Segawa rächen. Daher setzt er seine Freundin Nao (Katsuki Mori) auf ihn an; sie versucht, den Professor zu verführen. Als sie sich tatsächlich einander näher kommen, verursacht Nao durch eine falsch adressierte Email einen Eklat.
Das kann in der Schlussepisode „Noch einmal“ nicht passieren: Wegen eines Computervirus‘ wurden Emails abgeschafft, man schreibt wieder Briefpost. Moka (Fusako Urabe) reist zum Klassentreffen an, um nach 20 Jahren ihre heimliche Liebe Nana (Aoba Kawai) aus Schultagen wieder zu sehen, aber diese erscheint nicht. Am nächsten Tag glaubt Moka, Nana zufällig auf der Straße zu treffen. Es entspinnt sich ein langes Gespräch um die Gretchenfrage, ob sie glücklich sind.
Direktheit erzeugt Sog
Diese Ereignisse wirken unscheinbar, gewinnen aber existentielle Tiefe dank Hamaguchis Inszenierungskunst. Er lässt die Darstellerinnen offenherzig-intime Dialogsituationen durchleben, in denen die Zuschauer quasi mit den Protagonisten an einem Tisch sitzen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films " Drive my Car" - dezentes Vergangenheitsbewältigungs-Drama von Ryûsuke Hamaguchi
und hier eine Besprechung des Films "Ride or Die" - Roadmovie-Psychothriller über zwei junge Japanerinnen auf der Flucht von Ryuichi Hiroki
und hier einen Beitrag über den Film "Antiporno" – Groteske über inzestuöses Teenager-Begehren in Japan von Sion Sono.
Vier weitere Episoden sollen folgen
Trotz aller Unterschiede der einzelnen Charaktere mit ihren Stärken und Schwächen haben sie etwas gemeinsam: eine kaum bewusste, aber nagende Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Status quo – wobei sie unsicher sind, ob und wie der sich verändern ließe. Wie Hamaguchis Film diese Untiefen vermisst, während er an der Oberfläche ruhig und alltäglich anmutet, wirkt durch die genaue Zeichnung der Figuren und die Empathie für sie schlicht atemberaubend.
Mit „Drive my car“, den der Regisseur ebenfalls 2021 drehte, hat Hamaguchi Anfang 2022 den Auslands-Oscar gewonnen. Zu „Glücksrad“ hat er bereits eine Fortsetzung mit vier weiteren derartigen Episoden angekündigt. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht lange auf sich warten lassen.