Ryusuke Hamaguchi

Das Glücksrad (Wheel Of Fortune And Fantasy)

Sasaki (Shouma Kai) und Nao (Katsuki Mori) sind ein Paar. Foto: FilmKinoText
(Kinostart: 1.9.) Menschen denken, Liebesgötter lenken: Wie amouröse Wünsche und Pläne an Zufällen zerschellen, spielt der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi in drei Episoden durch. Sie wirken ruhig und alltäglich, doch unter der Oberfläche brodeln existentielle Emotionen – ein Meisterwerk.

„Vieles ist im Leben Zufall, doch die meisten wollen Schicksal“, sang einst Jochen Distelmeyer mit seiner Band Blumfeld. Tatsächlich verfolgt die Frage „Was wäre gewesen, wenn?“ nicht nur Menschen, die sich wundern, wie sie eigentlich da hingekommen sind, wo sie gerade stehen. Das Verhältnis von Notwendigkeit und freiem Willen ist auch ein immer wiederkehrendes Thema in Literatur und Film.

 

Info

 

Das Glücksrad
(Wheel Of Fortune And Fantasy) 

 

Regie: Ryusuke Hamaguchi,

121 Min., Japan 2021;

mit: Kotone Furukawa, Kiyohiko Shibukawa, Katsuki Mori, Fusako Urabe

 

Weitere Informationen zum Film

 

Das muss nicht zwangsläufig zu didaktisch anmutenden Konstruktionen führen, die verschiedene Varianten ein und derselben Geschichte nacheinander durchdeklinieren, wie beispielsweise in „Lola rennt“ (1998) von Regisseur Tom Tykwer. Man kann auch die Macht des Zufalls ins Zentrum der Filmerzählung stellen; das tat etwa sein spanischer Kollege Julio Medem in „Die Liebenden des Polarkreises“ aus demselben Jahr.

 

Kaleidoskop heutiger Liebeswelten

 

Dem zweiten Ansatz folgt der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi für „Das Glücksrad“. Drei sprachlastige Episoden setzt er zum Kurzgeschichten-Kaleidoskop heutiger Lebens- und Liebeswelten mit starken Frauenfiguren zusammen – wobei er bei seiner Inszenierung von Unwägbarkeiten des Liebeslebens nichts dem Zufall überlässt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Beste Freundin verliebt sich in Ex

 

Der Film ist konsequent symmetrisch durchkomponiert. Jede der drei Episoden besteht aus drei Hauptszenen, die von sanft bewegten Aufnahmen urbaner Landschaften, üppiger Stadtnatur und durchgestylter Interieurs umspielt werden; die Übergänge untermalen Ausschnitte aus Robert Schumanns Klavierstück „Von fremden Menschen und Ländern“. Sie bilden Miniaturen, die wie die Filmepisoden selbst gleichfalls nur auf den ersten Blick einfach erscheinen.

 

Die erste Episode „Magie (oder etwas weniger Zuverlässiges)“ behandelt eine komplizierte Dreiecks-Konstellation: Die junge Meiko (Kotone Furukawa) hat vor eineinhalb Jahren ihren Freund verlassen. Doch ausgerechnet ihre beste Freundin Tsugumi (Hyunri) hat sich in ihren Ex verliebt – was Maiko dazu bringt, wieder auf ihre Gefühle für den Verlassenen zu achten, mit unerwarteten Folgen.

 

Schulzeit-Liebe 20 Jahre später

 

In der zweiten Episode „Die Tür bleibt offen“ geht es darum, wie man die Kontrolle über das eigene Leben und Werk behält – oder daran scheitert. Professor Segawa (Kiyohiko Shibukawa) ist ein angesehener, preisgekrönter Schriftsteller. Doch der Student Sasaki will sich für seinen vermasselten Abschluss an Segawa rächen. Daher setzt er seine Freundin Nao (Katsuki Mori) auf ihn an; sie versucht, den Professor zu verführen. Als sie sich tatsächlich einander näher kommen, verursacht Nao durch eine falsch adressierte Email einen Eklat.

 

Das kann in der Schlussepisode „Noch einmal“ nicht passieren: Wegen eines Computervirus‘ wurden Emails abgeschafft, man schreibt wieder Briefpost. Moka (Fusako Urabe) reist zum Klassentreffen an, um nach 20 Jahren ihre heimliche Liebe Nana (Aoba Kawai) aus Schultagen wieder zu sehen, aber diese erscheint nicht. Am nächsten Tag glaubt Moka, Nana zufällig auf der Straße zu treffen. Es entspinnt sich ein langes Gespräch um die Gretchenfrage, ob sie glücklich sind.

 

Direktheit erzeugt Sog

 

Diese Ereignisse wirken unscheinbar, gewinnen aber existentielle Tiefe dank Hamaguchis Inszenierungskunst. Er lässt die Darstellerinnen offenherzig-intime Dialogsituationen durchleben, in denen die Zuschauer quasi mit den Protagonisten an einem Tisch sitzen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films " Drive my Car" - dezentes Vergangenheitsbewältigungs-Drama von Ryûsuke Hamaguchi

 

und hier eine Besprechung des Films "Ride or Die" - Roadmovie-Psychothriller über zwei junge Japanerinnen auf der Flucht von Ryuichi Hiroki

 

und hier einen Beitrag über den Film "Antiporno" – Groteske über inzestuöses Teenager-Begehren in Japan von Sion Sono.

 

Die Gespräche werden in Echtzeit von Anfang bis Ende ungeschnitten aufgenommen, mit allen Wendungen und Sprechpausen. Diese Direktheit erzeugt einen Sog: Emotionale Umschwünge lassen die Machtverhältnisse zwischen den Figuren kippen – oft völlig unvorhersehbar und dadurch umso fesselnder.

 

Vier weitere Episoden sollen folgen

 

Trotz aller Unterschiede der einzelnen Charaktere mit ihren Stärken und Schwächen haben sie etwas gemeinsam: eine kaum bewusste, aber nagende Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Status quo – wobei sie unsicher sind, ob und wie der sich verändern ließe. Wie Hamaguchis Film diese Untiefen vermisst, während er an der Oberfläche ruhig und alltäglich anmutet, wirkt durch die genaue Zeichnung der Figuren und die Empathie für sie schlicht atemberaubend.

 

Mit „Drive my car“, den der Regisseur ebenfalls 2021 drehte, hat Hamaguchi Anfang 2022 den Auslands-Oscar gewonnen. Zu „Glücksrad“ hat er bereits eine Fortsetzung mit vier weiteren derartigen Episoden angekündigt. Bleibt zu hoffen, dass sie nicht lange auf sich warten lassen.