Timothy Spall

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

Tom (Timothy Spall) unterwegs. Foto: Capelight Pictures
(Kinostart: 11.8.) Neun-Euro-Ticket auf britisch: Im Vereinigten Königreich fahren Rentner kostenlos mit dem ÖPNV. So bringt ein Greis die Asche seiner Gattin zurück in ihre frühere Heimat – Regisseur Gillies MacKinnon klappert mit diesem Nieselwetter-Roadmovie klischeehafte Episoden ab.

Das gesellschaftliche Großexperiment, das hierzulande derzeit in Form des Neun-Euro-Tickets stattfindet, läuft in ähnlicher Form in Großbritannien bereits seit 2008 – zumindest für alle Über-60-Jährigen. Mit ein paar regionalen Unterschieden: Mancherorts gilt der kostenlose Pass nur in Bussen, in anderen Gegenden im gesamten öffentlichen Nahverkehr. Als er eingeführt wurde, gab es seinerzeit Medienberichte über Pensionäre, die mit diesem Pass tatsächlich das ganze Land durchquert haben.

 

Info

 

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

 

Regie: Gillies MacKinnon,

92 Min., Großbritannien 2021;

mit: Timothy Spall, Phyllis Logan, Ben Ewing

 

Weitere Informationen zum Film

 

Genau das tut auch Tom (Timothy Spall). Er ist allerdings kein abenteuerlustiger Typ oder rüstiger Rentner, sondern ein gebrechlicher Greis, 90 Jahre alt und schwerkrank. Dass er vom schottischen 300-Seelen-Nest John o‘ Groats am nördlichsten Punkt der britischen Hauptinsel zu ihrem südwestlichsten Zipfel in Cornwall reist, liegt nur daran, dass er die Asche seiner kürzlich verstorbenen Frau Mary (Phyllis Logan) nach Hause bringen will: nach Land’s End.

 

Flucht in den 1950er Jahren

 

Dieses Zuhause hatten beide als junges Paar Anfang der 1950er Jahre nach einem traumatischen Ereignis Hals über Kopf verlassen. „Möglichst weit weg“, wünschte sich damals seine Frau. Für sie blieb eine Rückkehr in die alte Heimat, wohin es Tom schon länger zog, undenkbar. Als sie ihre Meinung änderte, war es zu spät.

Offizieller Filmtrailer


 

Busfahrten mit beschlagenen Scheiben

 

Leider ist damit im Wesentlichen erzählt, was in diesem betulichen Roadmovie von Regisseur Gillies MacKinnon passiert; er hat in den letzten 20 Jahren vorwiegend TV-Produktionen gedreht. Tom fährt in teils vollen, teils leeren Bussen durch Landschaften und Städte, von denen man nicht allzu viel sieht; im ewigen Nieselwetter sind die Scheiben oft beschlagen.

 

Ein Handy oder zumindest fremde Hilfe braucht er zur Planung und Umsetzung seiner Langstreckenfahrt nicht. Schließlich hat er diese Reise vor fast 70 Jahren schon einmal unternommen – in der Gegenrichtung. Damals fuhren Tom und Mary ebenfalls mit Bussen nach Schottland.

 

Inns + Pubs existieren immer noch

 

Vorab hat Tom feinsäuberlich in einem kleinen Büchlein notiert, wo er übernachten und sich verpflegen wird; erstaunlicherweise existieren viele dieser Gaststätten und Herbergen immer noch. Etwas mehr Gegenwart kommt durch einen Nebenstrang in die Handlung. Durch seine hingebungsvolle Mission wird Tom zu einer Berühmtheit in den Sozialen Medien – wovon er natürlich nichts ahnt. Es erscheint auch arg konstruiert.

 

Toms unfehlbarer moralischer Kompass lässt ihn intervenieren, als eine Muslimin mit Kopftuch von einem betrunkenen Rassisten beleidigt wird. Einen jungen Mann, der zur Armee gehen will, bringt er zum Nachdenken, indem er von seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg erzählt. Und indem er eine Kirchenhymne anstimmt, verhindert Tom, dass verfeindete Fußballfans übereinander herfallen, was zuvor in der Luft lag.

 

Langeweile durch schnelle Lösungen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Party" – britische schwarzhumorige Gesellschafts-Komödie von Sally Potter mit Timothy Spall

 

und hier einen Bericht über den Film "Mr. Turner - Meister des Lichts" – brillantes Biopic mit Timothy Spall als britischem Proto-Impressionisten William Turner von Mike Leigh

 

und hier ein Beitrag über den Film "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" - Verfilmung des Bestsellers von Jonas Jonasson durch Felix Herngren

 

Wenn etwas nicht klappt, wird Tom von hilfsbereiten Passanten oder feierwütigen Ukrainern mit nach Hause genommen. Unterwegs trifft er gute Menschen, aber auch weniger gute. Alle Hindernisse, die sie ihm in den Weg legen, werden jedoch in diesem gänzlich undramatischen und dadurch letztlich langweiligen Drama schnell ausgeräumt. Die Figuren, auf die er trifft, erscheinen eindimensional; die Gelegenheit, entlang der Route ein Panorama der britischen Gesellschaft zu entwerfen, wird verschenkt. Die klischeehaften Begegnungen bleiben weitgehend folgenlos.

 

Tom hat auch keine Zeit für Abschweifungen, denn seine Kräfte schwinden von Tag zu Tag. Regisseur MacKinnon hatte offenbar eine bittersüße Stimmung im Sinn, doch im Abgang wirkt sie eher süßlich-klebrig. Auch über Toms Beziehung zu seiner toten Gattin erfährt man trotz zahlreicher Rückblenden wenig. Die Auflösung des Traumas vor 70 Jahren wird lange aufgespart; eine Überraschung ist sie dann nicht mehr.

 

Einschläfernde Schwächen

 

Dagegen kam David Lynchs ebenso höchst entschleunigter Film „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ (1999) über einen alten Mann, der auf einem Rasenmäher 400 Kilometer zu seinem Bruder fährt, nicht nur unterhaltsam, sondern geradezu tiefschürfend daher. Zwar beeindruckt die Leistung des 66-jährigen Charakterdarstellers Timothy Spall, der sich für diese Rolle ein Vierteljahrhundert älter macht, als er ist. Doch das macht die einschläfernden Schwächen des Drehbuchs nicht wett.