Potsdam + Wien

Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945

Mary Abbott: Imrie, 1952, Öl und Farbstift auf Leinwand, 180,3 x 188 cm. © Photograph courtesy McCormick Gallery, Chicago
Aufregende Anarchie auf der Leinwand: In der Nachkriegszeit dominierte ungegenständliche Malerei die Westkunst. Abstrakter Expressionismus und Informel gaben sich radikal subjektiv – eindrucksvolle Beispiele von 50 Künstlern versammelt der Epochen-Überblick im Museum Barberini.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien die Form der Freiheit den meisten Betrachtern ziemlich formlos. Keine Figuren oder Perspektiven, stattdessen Farbflächen, -felder und -kleckse. Leinwände wurden zugespachtelt oder vollgespritzt. Auf der documenta II, die 1959 diese neuen Malweisen in allen Facetten präsentierte, wurde unüberhörbar der Vorwurf der Beliebigkeit laut. Kein Wunder, dass sich das Publikum Anfang der 1960er Jahre der entstehenden Pop Art zuwandte: Es konnte mit Suppendosen, Colaflaschen und Comicfiguren mehr anfangen.

 

Info

 

Die Form der Freiheit –

Internationale Abstraktion nach 1945

 

04.06.2022 - 25.09.2022

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr

im Museum Barberini, Alter Markt, Potsdam

 

Katalog 34 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

in veränderter Form als:

 

Pollock. Rothko. Mitchell –

Ways of Freedoom.

 

15.10.2022 - 22.01.2023

täglich 10 bis 18 Uhr in der

Albertina modern, Karlsplatz 5, Wien

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Obwohl die Spielarten abstrakter Malerei ab Mitte der 1940er Jahre sehr präsent blieben: Jedes Museum zeitgenössischer Kunst, das etwas auf sich hielt, füllte damit mehrere Säle – sie galten bis Ende des Jahrhunderts oft als Inbegriff von Modernität. Inzwischen hat diese vielsagend schillernde Kunstform etwas Patina angesetzt; unsere Gegenwart verlangt nach engagierter Eindeutigkeit.

 

Transatlantische Beeinflussung

 

Umso willkommener ist dieser klug kompilierte Rückblick im Potsdamer Museum Barberini. Er wird ab Oktober – anders betitelt und um österreichische Akteure wie Arnulf Rainer, Maria Lassnig und Günter Brus erweitert – in der Wiener Albertina modern gezeigt. Mit knapp 100 Werken von mehr als 50 Künstlern will die Ausstellung nachweisen, dass sich die Nachkriegs-Abstraktionen dies- und jenseits des Atlantiks nicht unabhängig voneinander entwickelten, sondern die Protagonisten in den USA und Westeuropa einander schätzten und beeinflussten.

 

Das mag durchaus so sein – dennoch sind erhebliche stilistische Unterschiede unübersehbar. Wobei der Grundimpuls von Europa ausging: Vorkriegsabstraktion und Surrealismus, häufig von Emigranten vermittelt, regten Maler vornehmlich in New York an. Das zeigen Werke von Jackson Pollock, Arshile Gorky oder Mark Rothko aus den frühen 1940er Jahren; auf ihnen lösen sich figurative Gebilde zusehends in abstrakte Linien und Flächen auf.

Trailer zur Ausstellung. © Museum Barberini, Potsdam


 

Pollock erfindet Action-Painting

 

Sie sollten spontanen Impulsen im Malprozess Raum geben und damit den subjektiven Emotionen des Künstlers Ausdruck verleihen – daher die Bezeichnung Abstrakter Expressionismus. Ab Mitte der 1940er Jahre praktizierte Jackson Pollock ihn als Action-Painting: Er strich, goss und tröpfelte Farbe auf die auf dem Boden liegende Leinwand. Diese Abkehr vom herkömmlichen Malen an Staffeleien war aber weniger spektakulär, als es den Anschein hatte: Pollock plante seine Kompositionen präzise.

 

Was man ihnen bis heute ansieht: Die Kontraste zwischen Fülle und Leere, hellen und dunklen Tönen, groben und feinen Verläufen sind genau austariert – gegensätzlich und zugleich harmonisch. Das fällt besonders im Vergleich mit ähnlich arbeitenden Kollegen auf, etwa Pollocks Ehefrau Lee Krasner, Janet Sobel oder Perle Fine. Ihren Allover-Bildern, obgleich voller Mikroformen, fehlt das Wechselspiel harmonischer Gegensätze. Sie wirken eher gleichförmig – da stellt sich rasch die Assoziation von Tapeten- oder Teppichmustern ein.

 

Monochrome Farbfeld-Blöcke

 

In starkem Kontrast zu solcher Kleinteiligkeit stand die Strömung der Farbfeldmalerei. Mark Rothko, Barnett Newman oder Robert Motherwell bedeckten ihre Bilder mit monochromen Blöcken und setzten, wenn überhaupt, nur wenige andersfarbige Akzente. Das sollte Betrachtern meditative Wahrnehmungs-Erlebnisse verschaffen. „Ich bin nur daran interessiert, grundlegende menschliche Emotionen auszudrücken“, betonte Rothko: „Die Menschen, die vor meinen Bildern weinen, machen die gleiche religiöse Erfahrung, die ich hatte, als ich sie malte.“

 

Wobei auch dieser Ansatz sehr verschiedene Ergebnisse zeitigte. Helen Frankenthaler und Morris Louis schütteten dünne Farbe direkt auf die Leinwand und manipulierten die Lachen – so drangen die Pigmente tief ins Gewebe ein. Clyfford Still versah hell grundierte Bilder mit zackigen Farbtupfern, die wie abgerissene décollage-Fetzen aussahen. Adolph Gottlieb kombinierte ruhige, geschlossene Formen mit wirren Sprenkeln; das verlieh seinen schlichten Arrangements enorme Spannung. Ad Reinhardt begrub alles unter Schichten von Schwarz – sein düsterer Purismus ließ von der Farbfeldmalerei nur noch das Feld übrig.

 

Farbschlachten wirken nur im Original

 

Derartige – meist großformatige – Gemälde entfalten ihren Reiz allein vor dem Original; das wird beim Rundgang deutlich. Auf Reproduktionen gehen nicht nur die Farbton-Nuancen verloren, sondern auch die Wucht des malerischen Gestus; die Konfrontation mit Farbschlachten, deren zerklüfteter Struktur man ansieht, wie ihre Urheber mit Pinseln, Spachteln und Tuben herumfuhrwerkten, vielleicht sogar wüteten.

 

Das entsprach dem radikal subjektiven Anspruch dieser Malweise; ihr Wunsch, nach dem verheerenden Krieg, der alle Traditionen fragwürdig erscheinen ließ, einen unbelasteten Nullpunkt der Kunst ausfindig zu machen. Ganz neu anfangen – quasi als visuelles Äquivalent der existentialistischen Philosophie. Sie spielte insbesondere bei der Entstehung und Entwicklung der europäischen Variante eine Rolle: dem Informel, auch Tachismus oder Lyrische Abstraktion genannt.

 

Sartre zahlte für Wols Hotelrechnungen

 

So beglich Jean-Paul Sartre zwei Jahre lang die Hotelrechnungen des chronisch klammen Wols (eigentlich Alfred Otto Wolfgang Schulze). Der deutsche Emigrant in Paris, der 1951 mit nur 38 Jahren infolge seines Alkoholismus starb, hatte als Autodidakt eine nie gesehene Formensprache erfunden. Zunächst in der Graphik, dann in der Ölmalerei: Wols kratzte und schabte in verwischte Farbflächen – solche Kerben und Schürfungen wurden von Betrachtern als schwärende Wunden oder Spuren von Explosionen empfunden.

 

Seine erste Ölbilder-Ausstellung 1947 machte ungeheuren Eindruck. „Wols hatte alles vernichtet. Nach Wols musste alles neu gemacht werden“, notierte etwa der Maler Georges Mathieu. Er kaprizierte sich auf rasch hingeworfene Farbschlieren auf hellem Grund, die er gern vor Publikum malte; seine dekorativ wirkenden Kompositionen erinnern oft an fernöstliche Kalligraphie. Wie die etwas spröderen, dunklen Linienspiele von Hans Hartung; der gebürtige Dresdner lebte ebenfalls in Frankreich.

 

Rohe Kunst mit Sand, Lehm + Mörtel

 

Die Ungarin Judit Reigl floh vor der Stalinisierung ihrer Heimat 1950 nach Paris. Ihre Werke zeichnen sich durch starke Dynamik aus: Dunkle Wirbel oder Blöcke werden durch helle Akzente rhythmisiert. Erdenschwer wirkt dagegen die art brut („rohe Kunst“) von Jean Dubuffet, der sich von Höhlenmalerei und der Kunst psychisch Kranker inspirieren ließ. Seine reliefähnlichen Bilder, die er mit Sand, Teer oder Glas bedeckte und mit graffitiartigen Symbolen anreicherte, erinnern an Maueroberflächen oder Steinböden.

 

Mit Baumaterialien wie Lehm und Mörtel überzog der Katalane Antoni Tàpies seine groben, großformatigen Kompositionen. Alberto Burri aus Italien verwendete dagegen Sackleinen und später Plastikplanen, die er mit Feuer traktierte; so wurden sie zu Sinnbildern planvoller Zerstörung. Neben den Arrivierten, die bis heute in etlichen Museen zu finden sind, stellt die Schau auch hierzulande weniger bekannte Künstler vor: etwa Jean-Paul Riopelle oder die Rumänin Natalia Dumitresco, die bunte, eng getüpfelte Flecken zu vibrierenden Farbmosaiken zusammensetzten.

 

CIA organisierte Schau-Tourneen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "The Music of Color: Sam Gilliam, 1967–1973" – große Einzelschau des Farbfeld-Malers im Kunstmuseum Basel

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Wols - Aufbruch nach 1945" in der Neuen Galerie, Kassel

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Bernard Schultze (1915 - 2015)" – zwei Retrospektiven des Informel-Malers in Düsseldorf + Köln

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "K.O. Götz" – prächtige Würdigung zum 100. Geburtstag des abstrakten Malers in Berlin, Duisburg + Wiesbaden

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Ways of Seeing Abstraction" – Überblicksschau über abstrakte Kunst seit den 1960er Jahren im PalaisPopulaire, Berlin.

 

Die letzte Abteilung ist dem deutschen Informel vorbehalten – und hiesigem Publikum am ehesten vertraut. Die Wischbilder von K.O. Götz beeindrucken noch heute durch ihren Schwung, die wuchernden Fantasiegebilde von Bernhard Schultze durch Einfallsreichtum. Dagegen wirken die runden Farbtupfer von Ernst Wilhelm Nay oder die eckigen von Fritz Winter eher abgestanden. Glühend gelbe und rote Farbflächen von Rupprecht Geiger und Otto Piene verweisen bereits auf die in den 1960er Jahren aufkommende Op-Art.

 

Kaum glaublich, dass diese Kunstform, die allein auf optische Eindrücke und direkte Kommunikation zwischen Schöpfer und Betrachter setzte, zum Propaganda-Arsenal im Kalten Krieg zählte. Kritiker priesen sie als unmittelbaren Ausdruck freier Individualität in der westlichen Welt – im Gegensatz zur Doktrin des Sozialistischen Realismus im Ostblock. So wurde manche Wanderausstellung abstrakter US-Malerei von der CIA zum Teil mitorganisiert und -finanziert. Diese Dichotomie hat sich erledigt – niemand setzt mehr auf Farbschlieren, um Diktaturen niederzuringen.

 

Unverwechselbare Handschriften

 

Dennoch erweist sich diese Malerei, die von allen außerkünstlerischen Bezügen absieht, als überraschend zeitlos. Jeder Künstler hat seine eigene, unverwechselbare Handschrift. Ob sie dem Betrachter etwas sagt, hängt allein von ihm ab. Ihm die enorme Fülle der Möglichkeiten vorzuführen, ist das Verdienst dieser Ausstellung: sie breitet aus, welche aufregende visuelle Anarchie das Hantieren nur mit Leinwand und Farben hervorbringen kann.