Isabelle Huppert + Lars Eidinger

Die Zeit, die wir teilen

Tim Ardenne (Lars Eidinger) und Joan Verra (Isabelle Huppert) vereint eine lange, aber komplizierte Vergangenheit. Foto: Camino Film
(Kinostart: 1.9.) Als Au-pair-Mädchen schwanger, als Mutter alleinerziehend, als Verlegerin mit ihrem Starautor liiert: In diesem Film hat Isabelle Huppert schon viel erlebt. Ihre emotionale Biographie erzählt Regisseur Laurent Larivière als schwelgerisches Melodram in artifizieller Atmosphäre.

Jedes Gedächtnis ist eine Welt für sich: Um die Subjektivität von Erinnerungen geht es in dieser Mischung aus Melodrama, Liebesgeschichte, Mutter-Sohn-Beziehung und Porträt einer heute etwa 60-jährigen Frau. Dass sie Anfang der 1960er Jahren geboren wurde, teilt Joan Verra (Isabelle Huppert) dem Publikum am Anfang mit, indem sie direkt in die Kamera spricht. Von diesem Fiktionsbruch abgesehen wahrt der Film des französischen Regisseurs Laurent Larivière den schönen Schein: Über weite Strecken verweilt er in einer träumerisch-schwelgerischen Sphäre.

 

Info

 

Die Zeit, die wir teilen
(A Propos de Joan)

 

Regie: Laurent Larivière,

101 Min., Frankreich/ Irland/ Deutschland 2021;

mit: Isabelle Huppert, Lars Eidinger, Swann Arlaud

 

Weitere Informationen zum Film

 

Joans Lebensgeschichte wird in Rückblenden erzählt. Sie hat eine französische Mutter und einen irischen Vater; er ermunterte sie, als Au-pair-Mädchen nach Dublin zu gehen. Dort verliebte sich Joan Hals über Kopf in einen jungen Kleinkriminellen, der sie schwängerte – was er nie erfuhr, weil sie bald wieder nach Frankreich zu ihren Eltern zurückkehrte. Mit deren Unterstützung zog sie ihren Sohn Nathan alleine groß.

 

Amour fou mit Enfant terrible

 

Derweil führt die Handlung immer wieder zurück in die Gegenwart. Als Joan nach Jahrzehnten zufällig in Paris ihre erste Liebe wiedertrifft, wühlt sie das so auf, dass sie in ihr Landhaus flüchtet. Die erfolgreiche Verlegerin ist mit einem ihrer Autoren liiert; der Deutsche Tim Ardenne (Lars Eidinger) tritt als exzentrisches Enfant terrible auf. Mit ihm wird das Dasein nie langweilig oder banal. Seine bedingungslose Liebe und Joans Wunsch, ihm mit gleicher Intensität begegnen zu können, bringt sie dazu, sich auf die emotionalen Höhepunkte ihres Lebens zurückzubesinnen.

Offizieller Filmtrailer


 

Schwieriges Verhältnis zu Sohn

 

Die drehen sich, wie es das Stereotyp vom Lieblingssujet französischer Filme will, hauptsächlich um die Liebe: Amour fou, außereheliche Liebschaften, sexuelle Befreiung oder auch Mutterliebe. Als roter Faden dient Joans wechselhaftes Verhältnis zu ihrem Sohn Nathan (Swann Arlaud). Dabei deutet sich ein Geheimnis an, dessen Auflösung am Ende ziemlich überrascht.

 

Bis dahin versteht es der Film, mit einfachen Mitteln die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn eindrucksvoll spürbar zu machen. Ihre Kommunikation wirkt immer irgendwie verlegen, mit leicht schiefen Tönen. Dabei stellt Isabelle Huppert einmal mehr ihre charismatische Aura unter Beweis – als Figur, die sie in ganz verschiedenen Lebensphasen verkörpert, aber auch als alterslose Diva.

 

Film mit Ecken und Kanten

 

Sie tritt in fast jeder Szene auf, denn ihre Perspektive steht im Vordergrund, obwohl ihre Rolle nicht sonderlich komplex ist. Allerdings droht der Film sich stellenweise in kitschig ausufernden Passagen und Wiederholungen zu verlieren; allein das Können Hupperts lässt den Zuschauer darüber hinwegsehen. Als schauspielerischer Kontrapunkt fungiert Lars Eidinger mit einer weiteren Variation seines üblichen Rollenschemas: des selbstgefälligen, kraftstrotzenden Draufgängers.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Eine Frau mit berauschenden Talenten" – Krimi-Komödie über eine Haschisch-Großhändlerin von Jean-Paul Salomé mit Isabelle Huppert

 

und hier eine Besprechung des Films "Elle" – raffiniertes Psychodrama über Rache für Vergewaltigung von Paul Verhoeven mit Isabelle Huppert

 

und hier einen Bericht über den Film "Tabu– Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden" von Christoph Stark über die inzestuöse Liebe des Dichters Georg Trakl mit Lars Eidinger

 

und hier einen Beitrag über den Film "Ihr werdet Euch noch wundern" – komplexes Konversationsdrama unter Liebespaaren mit großem Star-Aufgebot von Alain Resnais.

 

Trotz seiner gefühlsbetonten Geschichte ist „Die Zeit, die wir teilen“ ein Film mit Ecken und Kanten. Teils negativen: Überflüssige Nebenschauplätze stören den Erzählfluss und blähen die Handlung unnötig auf – etwa die Affäre von Joans Mutter mit einem japanischen Karate-Trainer, mit dem sie durchbrennt. Teils positiven: Die Mischung mehrerer Sprachen und Regionen schafft eine kosmopolitische Atmosphäre. Diese Internationalität trägt dazu bei, dass sich der Film einer eindeutigen Klassifizierung entzieht.

 

Artifiziell-kulissenhafte Welt

 

Regisseur Larivière geht auch in Bildgestaltung und Schnitt formale Wagnisse ein; etwa mit einer Farbpalette aus satten Tönen, die in den Rückblenden jeweils einer Zeitepoche und Grundstimmung zugeordnet werden. Dadurch entsteht eine betont artifizielle Welt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, durch die sich die Protagonisten bewegen. Somit wirkt „Die Zeit, die wir teilen“ ausgesprochen kulissenhaft; ähnlich wie die modernen Großstadtmärchen von Nouvel-Vague-Altmeister Alain Renais.

 

Oder „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (2001) von Jean-Pierre Jeunet, der für eine ganze Generation von Kinogängern ein nostalgisches Klischeeideal von Paris entwarf. Mit solchen Vorgängern verbindet diesen Film auch sein Personal aus eher egozentrisch gestimmten Großbürger-Charakteren, die sich gern selbst bemitleiden. Damit sabotieren sie jedoch Larivières Anspruch, die Universalität von Gefühlen wie Schmerz, Trauer und dem Verarbeiten von Verlusten aufzuzeigen.