Kassel

documenta fifteen: documenta Halle und das Ottoneum

Britto Arts Trust, (Chayachobi), 2022, Installationsansicht, documenta Halle, Foto: Nicolas Wefers
Die Jagd auf antisemitische Kunstwerke nimmt inquisitorische Züge an – obwohl fast alle Beiträge nichts damit zu tun haben, wie ein Rundgang durch die documenta Halle und das Ottoneum zeigt. Doch das lumbung-Prinzip bedroht das Geschäftsmodell des Kunstmarkts. Da hilft nur: Nächstes Mal in Jerusalem!

Die Hexe ist tot; zur Strecke gebracht von einer Phalanx aus jüdischen Lobby-Organisationen und ihren Bundesgenossen in deutschen Medien. Sie wollten, dass jemand für tatsächlich oder vermeintlich antisemitische Werke auf der documenta zur Verantwortung gezogen wird – vulgo: dass ein oder mehrere Köpfe rollen.

 

Info

 

documenta fifteen

 

18.6.2022 – 25.09.2022

täglich 10 bis 20 Uhr

an 32 Standorten in Kassel

 

Katalog 25 €

 

Website zur documenta 15

 

Da man schlecht ein indonesisches Kuratoren-Kollektiv, das mit den hiesigen Verhältnissen kaum vertraut ist, in toto abservieren kann, musste dafür die nächstrangige Person herhalten: Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta gGmbH. Obwohl die Aufgaben einer Geschäftsführerin keineswegs die Begutachtung von Kunst, sondern Finanzkalkulation und Organisation sind.

 

Krisenmanagement-Vorwurf passt immer

 

Egal: Sie hätte das ruangrupa-Kollektiv vorher instruieren, begleiten und warnen müssen, hieß es. Und vor allem: Sie hätte auf die Antisemitismus-Anschuldigungen ganz anders reagieren müssen – schneller, empathischer, eilfertiger oder sensibler, Hauptsache anders. Wenn ein Skandal in der Sache wenig hergibt, wird Wackelkandidaten stattdessen mieses Krisenmanagement vorgeworfen – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Hätten sie die Krise besser gemanaget, wäre es gar nicht erst zum Eklat gekommen.

Impressionen der Ausstellung in der documenta Halle und dem Ottoneum


 

Nachfolger kommt aus Bundeskulturstiftung

 

Es ist guter alttestamentarischer Brauch, einem Sündenbock alle möglichen Übel und Fehlleistungen anzuhängen, bevor man ihn in die Wüste jagt – das passt zum Anlass des Skandals. Schormanns Nachfolger heißt Alexander Fahrenholtz: Der Kulturmanager hat sein halbes Berufsleben in der höheren Bürokratie verbracht. Er bringt auch Erfahrung mit seinen neuen Aufgaben mit: Ab 1989 wirkte er drei Jahre lang als Geschäftsleiter der documenta IX, die Jan Hoet kuratierte.

 

Vor allem aber war Fahrenholtz 18 Jahre lang Verwaltungsdirektor der „Kulturstiftung des Bundes“. Das dürfte ihn befähigen, die von Kulturstaatsministerin Claudia Roth gewünschte Oberhoheit des Bundes über die documenta durchzusetzen: Um zu verhindern, dass die prestigeträchtige Weltmarke von nordhessischen Kommunalgrößen ruiniert wird. Es muss föderal aussehen, doch wir müssen alles in der Hand haben, würde Walter Ulbricht sagen.

 

Siebenköpfiger Beirat muckt auf

 

Als gewiefter Verwaltungsprofi versuchte Fahrenholtz nach Amtsantritt die Gemüter zu beruhigen: Es werde „keine Zensur, keinen Generalverdacht, kein Screening der gesamten Ausstellung“ geben. Nur: Genau dafür ist jüngst ein siebenköpfiger „fachwissenschaftlicher Beirat“ berufen worden. Dessen Mitglieder – nur Marion Ackermann als Chefin der Dresdener Kunstsammlungen ist Kunstfachfrau; die sechs anderen sind Historiker, Juristen oder Diskriminierungsexperten – wollen nicht kaltgestellt werden.

 

In ihrem ersten Statement behalten sie sich vor, eine „eigenständige Einschätzung zu formulieren“ – lies: Fahrenholtz entschieden zu widersprechen. Denn: „Wir werden uns als Gremium dafür einsetzen, dass jüdische Perspektiven bei der Aufarbeitung der Vorgänge bedacht und eingebunden werden.“ Offenbar war das aus ihrer Sicht bislang nicht oder nur ungenügend der Fall. Diese bizarre Einschätzung – worüber redet die heimische Kunstwelt seit einem halben Jahr? – lässt den Kern des Konflikts deutlicher hervortreten.

 

Einen beleidigen heißt alle beleidigen

 

Wer Antisemitismus anprangert, hat hierzulande immer recht. Wie sollten Kontrahenten beweisen, dass es nirgendwo einen Menschen jüdischen Glaubens gibt, der durch diese Darstellung oder jene Wortwahl verletzt wird? Sobald nur eine(r) sich nach eigenem Bekunden beleidigt oder getroffen fühlt, gilt das Jesus-Wort: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

 

Weshalb jeder Antisemitismus-Ankläger umstandslos beansprucht, für alle rund 15 Millionen Juden weltweit zu sprechen. Und jeder Versuch, die Anklage im Kontext zu sehen und damit zu relativieren, etwa mittels der Unterscheidung von antiisraelischen und antisemitischen Positionen, zum Scheitern verurteilt ist: Derlei spiele nur mörderischem Antisemitismus in die Hände, so die Replik – wer differenzieren wolle, begünstige ihn. Ähnlich argumentierte schon die heilige Inquisition: Wer die Lehren der Kirche in Zweifel ziehe, müsse vom Teufel besessen sein – anders könne er gar nicht auf derart abwegige Gedanken kommen.

 

Bislang kein blame game im Kunstbetrieb

 

Damit wird Antisemitismus im politischen Diskurs das, was man im IT-Bereich eine Killer-Applikation nennt: ein unschlagbar wirksames Programm. Hier: eine rhetorische Figur, deren Funktion als Totschlag-Argument jeden treffen kann. Wer als Antisemit – oder als Helfershelfer desselben –  gebrandmarkt wird, ist erledigt. Und sei es nur, weil er/sie nicht rasch genug antiantisemitische Podiumsdiskussionen mit Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, organisiert hat, wie Frau Schormann.

 

Dieses Ausschlussverfahren hat eine ehrwürdige Tradition; so musste etwa 1988 der Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) zurücktreten, weil er in seiner Gedenkrede zur Reichsprogromnacht angeblich antijüdisches NS-Vokabular verwendet habe. Doch bislang wurde das blame game, zuvor untadelige Gegner mit Antisemitismus-Vorwürfen auszuschalten, nur in Politik und Wirtschaft praktiziert. Der Kunstbetrieb blieb frei davon – seine krausen Volksgemeinschafts-Vorstellungen beeinträchtigten nicht Joseph Beuys’ Aufstieg zum nationalen Aktionskunst-Schamanen.

 

Beißwut der Antisemitismus-Alarmisten

 

Wieso hat sich das geändert? Oder als Frage formuliert, die sonst eher an Skinheads und vergleichbare Rechtsaußen-Wirrköpfe gerichtet wird: Warum dieser Hass? Warum überbieten sich führende Feuilletonisten und andere Lautsprecher seit Wochen darin, kraftvoll nachzutreten und der documenta-Leitung alle möglichen Unfähigkeiten zu unterstellen? Bis nur noch die Schlussfolgerung übrig bleibt: Macht diese unselige Kunstausstellung dicht oder verlegt sie sonstwohin!

 

Der rhetorische Furor, der ruangrupa und einzelnen Künstlern entgegen schlägt, legt die Deutung nahe: Da beißen Akteure um sich, weil sie sich in die Enge getrieben fühlen. Sie fürchten um ihre Köpfe; also lechzen sie nach denen der Gegenseite. Dass die indonesischen Kuratoren und von ihnen ausgewählte Künstlergruppen in einem offenen Brief über Zensur und Intoleranz klagen, ist verständlich: Sie begreifen nicht, was für die Antisemitismus-Alarmisten auf dem Spiel steht.

 

Forderung nach juristisch Verantwortlichen

 

Die wettern über angebliche strukturelle Verantwortungslosigkeit bei der documenta: Wenn das ruangrupa-Kollektiv andere Gruppen beauftrage, zu zeigen, was sie wollten, könne man keinen für das Ergebnis belangen. Als sei die Kunstausstellung eine Behörde oder ein Wirtschaftsunternehmen, bei der für jeden einzelnen Vorgang eine konkrete Person im juristischen Sinne haftbar sein muss. Manche – etwa der frühere Ästhetik-Professor Bazon Brock – gehen so weit, sämtlichen kollektiv erstellten Werken jeden Wert abzusprechen, weil ihnen die individuelle Autorschaft fehle. Zur Erinnerung: Brock war in den 1960er Jahren deutscher Prophet der Fluxus-Bewegung, die alle konventionellen Kunstbegriffe auflöste.

 

Doch aus ihrer Perspektive haben diese Kritiker nicht unrecht. Bis in die späten 1980er Jahre war die documenta ein teils ambitioniertes, teils verspieltes Sammelsurium dessen, was die Anschauungen des jeweiligen Kurators und der aktuelle Kunstbetrieb hergaben. Ohnehin galt zeitgenössische Kunst als schwer vermittelbares Nischenprodukt, das sich weitgehend in Kunstvereinen vor überschaubarem Honoratioren-Publikum abspielte.