Kassel

documenta fifteen: documenta Halle und das Ottoneum

Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), INSTAR archive, List of censored Artists, 2022, Installationsansicht (Detail), documenta Halle, Foto: Nicolas Wefers
Die Jagd auf antisemitische Kunstwerke nimmt inquisitorische Züge an – obwohl fast alle Beiträge nichts damit zu tun haben, wie ein Rundgang durch die documenta Halle und das Ottoneum zeigt. Doch das lumbung-Prinzip bedroht das Geschäftsmodell des Kunstmarkts. Da hilft nur: Nächstes Mal in Jerusalem!

Netzwerk eines Milliarden-Business

 

Das änderte sich in den 1990er Jahren mit der Globalisierung und dem großen Geld. Umtriebige Galeristen, die zuvor Ärzte und Rechtsanwälte beliefert hatten, eröffneten bald Filialen auf mehreren Kontinenten; sie setzen inzwischen mit Star-Künstlern jährlich zwei- bis dreistellige Millionenbeträge um. Das flankieren die documenta und diverse Biennalen mit verwässerten Versionen poststrukturalistischer Theorien: Jeder Beitrag wird vollmundig mit Weltverbesserungs-Anspruch präsentiert.

 

Die Schnittmenge beider Sphären – Großkünstler-Galerien und Großausstellungen – ist eher klein, doch sie sind komplementär: Letztere liefern mit ihrem Wortgeklingel die Atmosphäre höchster Bedeutsamkeit, welche die Preisexplosion auf dem Kunstmarkt rechtfertigen soll. Damit dieses Big Business – bereits 2010 wurde der internationale Jahresumsatz auf rund 43 Milliarden Euro geschätzt – weiter floriert, muss alles so bleiben, wie es ist: in einem fein austarierten Netzwerk aus Top-Kuratoren, -Galeristen, -Kritikern und -Künstlern, die sich gegenseitig Kontakte, Stipendien und Aufträge zuschustern.

 

Konkrete Utopie unterhöhlt Kunstmarkt

 

Nun hat ein nichtwestliches Kollektiv die weltgrößte Gegenwartskunst-Ausstellung übernommen und macht alles anders. Mit dem Charme einer Hausbesetzer-Initiative um 1980 laden sie alle möglichen Leute ein, alle möglichen Dinge zu tun und auszubreiten – Hauptsache selbstbestimmt, unhierarchisch, partizipativ und nicht profitorientiert. Als konkrete Utopie, die von revolutionären Veränderungen nicht nur faselt, sondern sie auch undogmatisch mit trial-and-error-Methoden durchführt. Um den Vergleich mit der katholischen Kirche nochmals aufzugreifen: Es ist, als zöge eine Schar einfacher Gläubiger in den Vatikan ein und verkünde, künftig ohne Papst und Kurie auszukommen – das Buch der Bücher und Laienpredigt reichten aus. Ähnliches forderte vor gut 500 Jahren ein renitenter Augustinermönch.

 

Solcher Pragmatismus ist schlicht existenzbedrohend für die weißen alten Männer (und ein paar Frauen), die im globalen Kunstmarkt den Ton angeben. Sollte sich der ruangrupa-Stil durchsetzen, wäre ihr Geschäftsmodell am Ende. Deshalb spucken sie Gift und Galle, sind dabei durch keine Entschuldigung oder Einzelmaßnahme zu beruhigen – ihnen passt die ganze Richtung nicht. Zurecht: Kaum ein Werk der documenta fifteen könnte man später an Galeriewände hängen und bei diskreten Hinterzimmergesprächen verhökern.

 

Nairobi-Slum + Protest gegen Kuba-Diktatur

 

Das zeigt überdeutlich ein Rundgang durch den einzigen Ort der Ausstellung, der eigens für sie errichtet worden ist: die documenta Halle. Aus der Not ihres exzentrischen Grundrisses – eine lang gestreckte Banane mit vier Ebenen – wird eine Tugend, indem nur fünf Aussteller die Halle bespielen. Den Eingangsbereich hat das „Wajukuu Art Project“ aus Kenia komplett mit rostigen Wellblechen verkleidet, um ihm die Anmutung eines Slums in Nairobi zu geben. Zwei Großskulpturen dominieren den Raum. Eine besteht aus Hunderten handgeschliffener Messer – sie machen Gewalt und Unsicherheit gleichsam physisch spürbar.

 

Auf der zweiten Ebene füllt das „Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR)“ aus Havanna zwei Säle mit ätzendem Protest gegen das spätstalinistische Regime auf Kuba: drastischen Ölbildern, von Hand übermalten Schnappschüssen der offiziellen TV-Propaganda und originellen Pappkameraden. Fotoporträts von Künstlern und Intellektuellen, die unter staatlichen Repressionen zu leiden hatten, wurden auf handpuppenartige Lappen übertragen und auf Stöcke montiert – bei allen Gesichtern sind die Augen ausgestanzt.

 

Bollywood- + Nollywood-Filmindustrie

 

Im großen Saal der Halle rivalisieren zwei Gruppen um Aufmerksamkeit. Gefällig bunt ist die Skateboard-Rampe von „Baan Noorg Collaborative Arts and Culture“ aus Thailand; darauf darf man skaten üben. Zuweilen wird traditionelles Nang-Yai-Schattenspiel mit Bildtafeln aus Pergament geboten. Mehr Gegenwartsbezug hat der Beitrag des „Britto Arts Trust“ aus Bangladesh: Die gesamte Saalwand füllen Szenenbilder aus Bollywood-Filmen, die sich ums Essen drehen. Ein Kiosk bietet postapokalyptisch verfremdete Lebensmittel feil: Fische und Krabben aus Metall, Hühnchen oder Maiskolben aus Keramik.

 

Der Annex der Halle ist dem Kino von „Wakaliga Uganda“ vorbehalten. Hier laufen Ausschnitte aus Filmen wie „Football Kommando“ oder „Who Killed Captain Alex?“: rasch heruntergekurbelte Streifen mit Amateur-Darstellern und hanebüchenen Grusel- und Schock-Effekten. Diese ugandische Variante der bekannten Nollywood-Filmindustrie in Nigeria ist definitiv keine Hochkunst – bietet aber Besuchern einen Einblick in Trash-Kinowelten, die Millionen von Schwarzafrikanern begeistern.

 

Abgebaute Parade von Reizwort-Kalauern

 

Ein Film war auch die Attraktion des Ausstellungsorts Ottoneum. War, weil die Künstlerin Hito Steyerl am 8. Juli von der documenta-Leitung verlangte, ihre Installation „Cave“ samt Video „Animal Spirits“ abzubauen – wegen „antisemitischer Inhalte“ in der Ausstellung. Die Deutschjapanerin versteht sich auf spektakuläre Absagen: So lehnte sie im Herbst 2021 aus Protest gegen die Corona-Politik das Bundesverdienstkreuz ab.

 

Ihre Video-Installation war eine Art Kassiber in einer ansonsten sterbenslangweiligen Materialsammlung der spanischen INLAND-Gruppe zu ökologischer Landwirtschaft. Steyerls Film simulierte anfangs eine Art Reality-TV-Show mit Schafhirten, die Touristen unterhalten. Gefolgt vom „Cryptic Colosseum“: Mit animalischen Avataren kämpften Spieler um Bitcoins. Dann warben sanftmütige Sprecher für cheesecoin-Währungen, die von Käsebakterien produziert werden. Eine Parade von Kalauern, aber mit allerlei aktuellen Reizwörtern angereichert – kurze Ausschnitte sind im Videoclip dieses Beitrags ab 04:02 zu sehen.

 

documenta goes to Israel

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta fifteen: Fridericianum": Rundgang durch die Kunstausstellung im Fridericianum

 

und hier eine Besprechung der "documenta fifteen" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst-Ausstellung 2022 in Kassel

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Documenta. Politik und Kunst: Geschichte 1955 bis 1997" im Deutschen Historischen Museum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel

 

und hier einen Bericht über die "dOCUMENTA (13)" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2012 in Kassel.

 

Damit kann „ikkibawiKrrr“ aus Südkorea nicht mithalten: Die Gruppe dokumentiert Relikte des Zweiten Weltkriegs in Fotos und Standbildern. Dazu singen Frauen das Volkslied „Arirang“. Alles sehr statisch, bieder und unüberraschend – doch womöglich zukunftsweisend für kommende Ausstellungen. Die documenta fifteen beweist, dass Kassel als Schlachtfeld für den Kulturkampf zwischen Kunstmarkt-Leitwölfen und postkolonialen Graswurzel-Aktivisten ungeeignet ist. Die einen fürchten um ihre Deutungshoheit, die anderen fühlen sich geschurigelt – was beide Seiten unnötig frustriert.

 

Um den leidigen Antisemitismus-Verdacht ein für allemal aus der Welt zu schaffen, hilft nur: die documenta nach Israel zu verlegen. Nicht nach Tel Aviv, wo ein zu liberaler Geist weht, sondern nach Jerusalem, wo sich Glaubenseiferer dreier Weltreligionen ständig beharken. Da wird die Schau kaum auffallen. Für das Auswahlkomitee böten sich außer Josef Schuster auch der multimedial allgegenwärtige Meron Mendel an. Neben seinem Master in Jüdischer Geschichte qualifiziert ihn sein Posten als Direktor der „Bildungsstätte Anne Frank“, denn NS-Vergangenheitsbewältigung hängt sowieso mit allem zusammen.

 

Bibi als Kurator

 

Als Dritter empfiehlt sich Volker Beck. In seiner Eigenschaft als Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft fordert der Grünen-Politiker lautstark den Transfer dieser „documenta der Schande“ wegen ihres „antisemitischen Feuerwerks“ an einen anderen Austragungsort. Beck kennt sich mit bewusstseinserweiternden Sinneseindrücken aus: 2016 musste er 7000 Euro zahlen, weil die Polizei bei ihm die harte Droge Crystal Meth gefunden hatte; danach trat er von allen Fraktions- und Parlamentsämtern zurück. Nicht die beste Ausgangsposition für militantes Moralisieren, könnte man meinen.

 

Zum Kurator sollte das Trio den israelischen Ex-Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu küren, der schon 2018 lebhaftes Interesse am deutschen Kulturbetrieb bekundet hat: Da ihm eine Fotoschau im Jüdischen Museum Berlin (JMB) zu wenig pro-jüdisch erschien, verlangte er von der damaligen Bundesregierung, dem JMB den Geldhahn zuzudrehen. Sollte all das nicht genügen, könnte noch das israelische Großrabbinat jedes einzelne Exponat als koscher beglaubigen. Dann wird die documenta endlich ausreichend philosemitisch sein; gleichsam als Makkabiade der Kunstwelt.