
Eine Sumpflandschaft an der Küste des US-Bundesstaats North Carolina: weit und breit nur Gewässer, Inseln, Bäume, Schilf und typisch sommerliche Klänge. Das Wasser plätschert, Zikaden zirpen, ab und zu krächzen Vögel. Dann dröhnt ein heran nahender Bootsmotor, gefolgt vom Brüllen einiger Polizisten. Sie suchen eine Mordverdächtige. Regisseurin Olivia Newman lässt ihren Film mit einem bekannten Motiv beginnen: In die Idylle bricht eine Bedrohung von außen ein.
Info
Der Gesang der Flusskrebse
Regie: Olivia Newman,
125 Min., USA 2022;
mit: Daisy Edgar-Jones, Taylor John Smith, Harris Dickinson
Als „Marschmädchen“ geschmäht
Dabei sind sowohl Ort als auch Handlung des Welt-Bestsellers von Delia Owens originell: Erzählt wird die Biographie von Catherine Clark, genannt Kya (Daisy Edgar-Jones). Sie lebt in den späten 1950er Jahren allein und ohne Familie in einem isolierten Holzhaus in den Sümpfen. Nahe der Kleinstadt Barkley Cove, dessen Einwohner sie abfällig als „Marschmädchen“ bezeichnen.
Offizieller Filmtrailer
Naturliebhaber alphabetisiert Kya
Eines Tages gerät sie unter Verdacht, den gleichaltrigen Chase Andrews (Harris Dickinson) ermordet zu haben – deshalb setzt der Film mit einer Verfolgungsjagd im Sumpfgewässer zwischen Ordnungshütern und Kya ein. Im Ruderboot hat sie keine Chance; kurz darauf wird sie in der örtlichen Polizeistation als Untersuchungshäftling eingesperrt. Dort besucht sie der Rechtsanwalt Tom Milton (David Strathairn), der sich der Endzwanzigerin als Verteidiger anbietet.
Kya Milton erzählt ihm ihr Leben, das in Rückblenden zu sehen ist. In ihrer Kindheit verließen ihre Mutter und später ihre drei Geschwister den gewalttätigen Vater. Als der auch abhaute, fristete sie jahrelang ein isoliertes und bescheidenes, aber friedliches Dasein. Dann begegnete sie dem gleichaltrigen Tate Walker (Taylor John Smith), der ebenfalls die Natur liebt. Er brachte Kya, die nie eine Schule besucht hat, Lesen und Schreiben bei.
Zweiter Verehrer will vergewaltigen
Die Einstellungen, die beide lesend in einer Lichtung zeigen, könnten rührend sein. Doch Kya sagt vor Bedeutung triefende Sätze auf wie „Ich wusste gar nicht, dass Worte soviel Bedeutung haben können“, bevor sie schmachtend ihre Lippen für den ersten Kuss schürzt. Ihre anbahnende Romanze wird optisch völlig überzuckert – beide müssen durch Herbstblätter tollen, die eine Bö aufgewirbelt hat, um sich danach in die Arme zu fallen. Klebrige Klänge geben der Szene den Rest.
In der zweiten Filmhälfte legt Regisseurin Newman die rosarote Brille zeitweise ab. Tate ist fort, um das College zu besuchen. Kya lernt Chase kennen, der erst ihr Vertrauen schwer erkämpft – und es bald wieder verspielt, als Kya ihn bei einem ihrer seltenen Besuchen in der Stadt mit seiner Verlobten beobachtet, die er ihr verheimlichte. Als sie sich von ihm trennen will, schlägt er sie und versucht, sie zu vergewaltigen. Doch Kya gelingt die Flucht.
Suggestive Sumpflandschafts-Aufnahmen
Hintergrund
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Handwerklich macht Regisseurin Newman in ihrem zweiten Film vieles richtig: Die Aufnahmen der fast unberührten Sumpflandschaft, etwa durch Kameras sehr nahe an der Wasseroberfläche, ziehen den Betrachter quasi in diese Feuchtgebiete hinein. Während die Hauptdarsteller Daisy Edgar-Jones und ihr sanftmütiger Partner Taylor John Smith selbst in den kitschigsten Momenten glaubhaft spielen, kontrastiert das onkelhafte Auftreten von David Strathairn als Anwalt angenehm mit den gehässigen Städtern, die Kya wie eine Aussätzige behandeln.
Kitschige Negativ-Klischees
Ohnehin überzeugt der Film, solange er starke Kontraste ausreizt, etwa böse Kleinstadtbewohner gegen heroische Einzelgängerin, oder bunte Natur gegen graue Gefängniszellen. Doch Regisseurin Newman treibt damit dem Film auch jede Ambivalenz aus. Zwar stellt Kya gegen Ende fest: „Die einzige Konstante der Natur ist Veränderung“. Die Akteure dieses Films, so scheint es, ändern sich jedoch nie: Sie sind stets dazu verdammt, auf ihren Haltungen und Handlungen zu beharren. Doch auch eine unrealistische Anhäufung von negativen Klischees, auch das ein Merkmal von Kitsch, schafft keine Empathie, sondern ermüdet nur.