Stanisław Mucha

Wettermacher

Die russische Wetterstation „Chodowaricha“ an der Polarmeerküste - links der Leuchtturm, rechts die Behausungen. Foto: ©W-film / Zinnober Film
(Kinostart: 18.8.) Lagerkoller als vorherrschende Lebensform: Vier Bewohner einer russischen Polarstation sind auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Davon berichtet Regisseur Stanisław Mucha nur auf der Tonspur – seine Doku-Kamera schwelgt in monotonen Bildern unwirtlicher Weiten.

Kalte Brise gefällig? In der gegenwärtigen Sommerhitze kommt eine Doku über die Polarregion wie gerufen. Schneewehen bis zum Horizont, im arktischen Meer treibende Eisschollen und dick vermummte Menschen, die gefrorene Erdböden aufhacken, versprechen willkommene visuelle Erfrischung. Die bietet „Wettermacher“ reichlich – allerdings kaum mehr als das.

 

Info

 

Wettermacher

 

Regie: Stanisław Mucha,

92 Min., Russland/ Deutschland 2021;

 

Weitere Informationen zum Film

 

Regisseur Stanisław Mucha hat die vier Bewohner der russischen Wetterstation Chodowaricha an der Eismeerküste etwa ein Jahr lang begleitet: Leiter Wladimir Fokusow, seinen Mitarbeiter Alexander Tatarinow und dessen Frau Sascha Beljakowa. Neben den drei Meteorologen lebt dort auch das Faktotum Wassilij Morew: Er wurde als Sohn einer früheren Leiterin auf der Station geboren, ging später fort, gründete eine Familie – doch nach einer Krebserkrankung kehrte er nach Chodowaricha zurück. Weil er hierher gehört, wie er sagt.

 

Reha für Kriegsveteran

 

Die drei Meteorologen sind eher unfreiwillig auf dem entlegenen Außenposten gelandet. Wladimir wurde strafversetzt, nachdem auf einer anderen Station, deren Leiter er ebenfalls war, eine schwangere Frau in einem Raum voller Abgase erstickt war. Der Berufssoldat Alexander wurde im Tschetschenien-Krieg schwer verletzt; er entschied sich für eine Umschulung zum Meteorologen, um in arktischer Abgeschiedenheit sein inneres Gleichgewicht wieder zu finden.

Offizieller Filmtrailer


 

Wetterdaten aus dem Meer angeln

 

Sascha war mit einem Neureichen verheiratet, der Bankrott machte und Selbstmord beging; mit ihrem überdurchschnittlich dotierten Gehalt stottert sie nun Schulden ihres Ex ab. Ihre bei der Oma lebende Tochter sieht sie nur alle zwei Jahre. All das erfährt man nur aus dem Off-Kommentar des Regisseurs; weder sprechen die Protagonisten darüber, noch wird es in irgendeiner Form sichtbar.

 

Denn gezeigt wird nur der zermürbend monotone Alltag in dieser Mini-Siedlung aus drei Häuschen und einem Leuchtturm am äußersten Rand der bewohnbaren Welt. Während ihrer Arbeitszeit erheben die Meteorologen irgendwelche Wetterdaten; etwa mit einer Art Angel-Sonde, die sie durch die Brandung ziehen. Die geben sie an ihre Zentrale durch – per Funkgerät, weil ihre Internet-Verbindung schwach und instabil ist.

 

Tee-Plauderrunde mit Nenzen-Metzgern

 

Was genau sie messen und wozu, bleibt unklar; Naturwissenschaftliches interessiert Regisseur Mucha offenkundig nicht. Dass altmodisch analoge Technik verwendet wird, weil die in dieser Region häufigen Polarlichter mit ihren magnetischen Entladungen jede Elektronik lahm legen, steht nur im Presseheft.

 

In ihrer Freizeit machen die Bewohner, was Werktätige auf Montage eben so tun: kochen und fernsehen, sich um den Haushalt und ihre Behausungen kümmern. Oft muss improvisiert werden, weil die Vorräte und Material knapp sind: sei es bei Frischwasser-Beschaffung oder dem Abstützen des morschen Leuchtturms. Nur Zigaretten gibt es genug; alle Männer scheinen Kettenraucher zu sein. Einmal kommen Nenzen – sibirische Ureinwohner – zu Besuch und verkaufen frisch geschlachtetes Rentier-Fleisch. Die anschließende Plauderrunde beim Tee wird zum Höhepunkt gesprächiger Geselligkeit im Film.

 

Leiter belästigt Sascha sexuell

 

Dabei gäbe es viel zu erzählen. Wie sich aus Andeutungen beim Blättern in alten Unterlagen und Muchas Kommentaren allmählich herausschält, spielen sich auf dieser und anderen Polar-Wetterstationen existentielle Dramen ab. Wenig verwunderlich: Lagerkoller ist die vorherrschende Lebensform.

 

Dauerisolation zerrüttet die Gemüter; manche werden depressiv, andere laufen Amok. Oder fliehen vor den Folgen ihrer Taten: Während Alexander wegen Arztbesuchen abwesend war, hat Wladimir Sascha sexuell belästigt. Danach verschwand er spurlos – um Monate später mit dem alljährlichen Versorgungsschiff wiederzukommen.

 

Reine Beobachtung + launige Interviews

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "How I ended this summer" – packendes Drama auf einer russischen Polarstation von Alexej Popogrebsky, prämiert mit drei Silbernen Bären bei der Berlinale 2010

 

und hier eine Besprechung des Films "Chamissos Schatten - Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln" – epische, zwölfstündige Polarmeer-Doku von Ulrike Ottinger

 

und hier einen Beitrag über den Film "Chasing Ice"  - großartige Doku über das Abschmelzen der Gletscher von Jeff Orlowski

 

und hier einen Bericht über den Film "Tristia − Eine Schwarzmeer-Odyssee" - Doku über eine Umrundung des Schwarzen Meeres von Stanisław Mucha.

 

Wie das Trio damit umgeht, blendet Regisseur Mucha aus. Er gilt als Vertreter des Direct Cinema, das sich auf reine Beobachtung beschränkt. Was der in Deutschland arbeitende Pole früher durch launige Interviews mit den Beobachteten anreicherte: So wurde 2001 seine Doku „Absolut Warhola“ über das Geburtsdorf von Andy Warhols Eltern in der Slowakei zum Überraschungshit.

 

Dabei schreckte Mucha lange vor deftigen Kalauern und Zoten nicht zurück; erst 2017 schlug er in „Kolyma – Straße der Knochen“ einen ernsteren Ton an. An der ostsibirischen Fernstraße hatte Muchas Großvater als Häftling im stalinistischen Gulag mitgebaut.

 

Eher „How I Ended This Summer“ gucken

 

Mit diskreter Zurückhaltung bleibt „Wettermacher“ jedoch notgedrungen an der Oberfläche glitzernder Eisblumen. Die Selbstauskünfte der Beteiligten sind – abgesehen vom redseligen Wassilij – wortkarg; mit Fragen nachzuhaken, verkneift sich Mucha. So könnte sein Sujet allenfalls als Hörfunk-Feature über extrem ereignisarmes Dasein fesseln.

 

Wer aber sehen will, welche Psychodynamik die Zwangsgemeinschaft auf einer entlegenen Polarstation auslösen kann, sollte sich den packenden Spielfilm „How I Ended This Summer“ von Alexej Popogrebsky anschauen – dafür wurde der russische Regisseur völlig verdient auf der Berlinale 2010 mit drei Silbernen Bären ausgezeichnet.