Annika Pinske

Alle reden übers Wetter

Da braut sich was zusammen: Clara (Anne Schäfer) mit ihrer Tochter (Emma Frieda Brüggler) und ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) spähen in Richtung Horizont. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 15.9.) Vom Plattenbau ins Hegel-Seminar: Regisseurin Annika Pinske porträtiert eine Bildungsaufsteigerin, die sich von ihrer Herkunft entfremdet hat. Ihre präzise Milieustudie wirkt passagenweise so nüchtern und spröde wie ein Soziologie-Seminar.

„Niemand wird so wieder werden, so wie er mal war zuvor. Niemand kommt zwei Mal auf Erden durch ein und dasselbe Tor“, singen die Puhdys an einer Stelle des Films „Alle reden übers Wetter“. Der Ostrocker-Song ist programmatisch für dieses Drama: Es beleuchtet Entfremdung von der eigenen Herkunft als Preis des sozialen Aufstiegs.

 

Info

 

Alle reden übers Wetter

 

Regie: Annika Pinske,

89 Min., Deutschland 2022;

mit: Anne Schäfer, Judith Hofmann, Marcel Kohler, Max Riemelt

 

Website zum Film

 

Clara (Anne Schäfer) sitzt zwischen allen Stühlen: Als Philosophie-Doktorandin an einer Berliner Uni ist sie das Musterbeispiel einer starken, unabhängigen Frau. Sie lebt in einer WG, ihre halbwüchsige Tochter Emma hingegen beim Vater (Ronald Zehrfeld). Das verschafft ihr genug Privatsphäre für eine Affäre mit einem ihrer Studenten, den sie emotional jedoch auf Abstand hält.

 

Selbstmord-Statement beim Diner

 

Beim steifen Abendessen mit arrivierten Professoren erfindet die spröde Nachwuchs-Akademikerin jedoch spontan eine Herkunft als ostdeutsche Diplomatentochter. Was denn ihr Vater nach der Wende gemacht habe, wollen die Honoratioren westdeutscher Provenienz wissen. „Er hat sich umgebracht“, lautet kühl Claras Antwort. Danach ist erst mal Ruhe.

Offizieller Filmtrailer


 

Alle labern, keiner kommuniziert

 

Was es wirklich mit Claras Vater auf sich hat, erfährt man nicht. Doch als sie kurz darauf zum 60. Geburtstag ihrer arbeitslosen Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich) in die Provinz von Meck-Pomm fährt, wird deutlich, dass es um Claras Herkunftsmilieu ganz anders bestellt ist: Plattenbau und kleinbürgerliche Enge anstelle von Diplomatenvilla.

 

Sowohl beim Wohnraum als auch beim geistigen Klima: „Warum wird hier eigentlich nur gelabert und nie kommuniziert“, bricht es einmal aus Clara heraus, als wieder einmal nur über das Wetter gesprochen wird – ein ungefährliches Konversations-Thema auf kleinstem gemeinsamen Nenner zwischen Menschen, die sich sonst wenig zu sagen haben. Dass sie selbst ein Kommunikationsproblem mit ihrer stillen Teenie-Tochter hat, entgeht ihr offenbar.

 

Ehrgeiz soll Unsicherheit kompensieren

 

Die Beziehung zwischen Inge und Clara pendelt zwischen Inges Stolz auf den beruflichen Erfolg der Tochter und ihrem völligen Unverständnis, wie deren Dasein in der Hauptstadt eigentlich aussieht. Das Gefühl, im neuen Leben nicht wirklich anzukommen, während man dem alten entwachsen ist, beschreibt der Film sehr treffend. Clara fehlt die Selbstsicherheit eines Menschen großbürgerlicher Abstammung. Ihre Unsicherheit kompensiert sie mit Ehrgeiz und schroffem Auftreten.

 

Damit beschreibt Regisseurin Annika Pinske in ihrem Spielfilmdebüt soziale Realitäten, die ansonsten in den Medien kaum vorkommen. Gleich drei Handicaps machen Clara das Leben schwer: Sie ist Frau, Ostdeutsche und Bildungsaufsteigerin. Gleichzeitig wirkt das Drehbuch mit didaktischen Ambitionen überfrachtet. Streckenweise beschleicht einen das Gefühl, an einem Soziologie-Seminar teilzunehmen.

 

Suff + Gewalt in Dunkeldeutschland

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Lieber Thomas" – brillant furioses Biopic über den deutsch-deutschen Dichter Thomas Brasch von Andreas Kleinert mit Albrecht Schuch

 

und hier eine Besprechung des Films "Das Mädchen mit den Goldenen Händen" – facettenreiches Porträt einer Rückkehrerin in ihre ostdeutsche Heimat von Katharina Marie Schubert mit Corinna Harfouch

 

und hier einen Bericht über den Film "Exil" – Porträt eines unter Diskrimierungsangst leidenden Kosovaren von Visar Morina mit Mišel Matičević.

 

Die Figur der Clara vereint die größtmöglichen Gegensätze – vom Arbeiterkind zur Dozentin über Hegels Freiheitsbegriff – was zwar nicht unrealistisch, aber doch sehr gewollt wirkt. Manche Dialoge klappern recht hölzern dahin. Klischees auch am anderen Ende des sozialen Spektrums: Die Dorfbewohner saufen reichlich Bier und schlagen Kinder.

 

Nur wenige Szenen berühren emotional; etwa eine Begegnung von Clara mit ihrem Jugendfreund, in der viel Melancholie mitschwingt. Die intellektuelle Distanz der Hauptfigur zu ihrem Leben überträgt sich auch auf die Zuschauer. Verstärkt werden die inhaltlichen Schwächen durch eine biedere Bildsprache, die an TV-Dutzendware erinnert.

 

Keine überraschenden Perspektiven

 

In den betont nüchternen Einstellungen dominieren gedeckte Töne und künstliches Licht. Dass man akademische Außenseiter, die sich von ihrer Umwelt nicht akzeptiert fühlen, auch ungewöhnlich porträtieren kann, zeigte etwa „Exil“ (2020) von Visar Morino: Darin wird ein vermeintlich gut integrierter Kosovo-Albaner zum Opfer seiner Paranoia. Doch solche überraschenden Perspektiven fehlen in „Alle reden übers Wetter“ völlig.