Die documenta fifteen biegt in die Zielgerade ein – Zeit für eine vorläufige Bilanz. Zwei Schlussfolgerungen drängen sich auf; eine positive und eine negative. Die schlechte Nachricht zuerst: Anlass und Verlauf des so genannten Antisemitismus-Skandals haben gezeigt, wie konfliktträchtig das lumbung-Konzept der ruangrupa-Kuratorengruppe war.
Info
documenta fifteen
18.6.2022 – 25.09.2022
täglich 10 bis 20 Uhr
an 32 Standorten in Kassel
Katalog 25 €
Geläufige Antiantisemitismus-Routine
Auch bei früheren documentas gab es politische Provokationen – doch kein Happening und keine Performance hat je derart hasserfüllten Reaktionen hervorgerufen wie die Bilder von Hamja Ahsan oder Taring Padi. Dass letztere Gruppe erklärte, antisemitische Absichten lägen ihr fern, und ihre riesigen Banner-Kompositionen müsse man im Kontext der indonesischen Protestkultur verstehen, zählte nicht. Die deutsche Mediendebatte verharrte in geläufiger Antiantisemitismus-Routine.
Impressionen der Ausstellung im Hallenbad Ost mit Taring Padi, Kirche St. Kunigundis mit Atis Resistanz und Hübner-Areal
„Es gibt nicht den Wunsch, zu verstehen“
Was wiederum die Attackierten befremdete. „Bei uns wird ein Fehler genannt, man ordnet ihn ein und macht dann weiter. Hier hört keiner richtig hin, obwohl es uns gerade um den Dialog geht“, stellte ruangrupa-Mitglied Reza Afisina jüngst im Interview mit dem „Tagesspiegel“ fest: „Es gibt gar nicht den Wunsch, einander zu verstehen.“ Damit hat er den Kern der Auseinandersetzung völlig richtig verstanden.
Den rabiaten Kritikern ging es nie darum, mit den documenta-Verantwortlichen zu einer gütlichen Einigung zu kommen, um das Gelingen der Ausstellung zu gewährleisten. Sondern es ging ihnen um die Deutungshoheit: durch lautstarkes Anprangern eigene Positionen durchzudrücken und institutionell abzusichern, in einem kulturpolitischen Machtkampf mit harten Bandagen.
Jedes Land hat eigene Reizthemen
Dafür wurde das ganze Arsenal hiesiger Debattenkultur aufgeboten: Schlagabtausch in Leitartikeln, offene Briefe und Boykottaufrufe, Experten-Beiräte und -Gutachten – sowie natürlich Rücktrittsforderungen. Warum Geschäftsführerin Sabine Schormann geschasst wurde, wird in einem Jahr kaum jemand noch genau erinnern.
Dass sich der Streit an vermeintlichem Antisemitismus entzündete, war dem Standort geschuldet. Jedes Land hat seine Reizthemen, über die seit jeher mit verhärteten Fronten so ausdauernd wie fruchtlos gezankt wird: in den USA ist dies Alltags-Rassismus, in Großbritannien die Klassengesellschaft, in Frankreich sind es soziale Errungenschaften wie die 35-Stunden-Arbeitswoche. In Deutschland müssen dafür aus naheliegenden Gründen NS-Vergangenheit und Antisemitismus herhalten.
Postkoloniale Lippenbekenntnisse
Dass die Kritiker ruangrupa vorhielten, sie hätten sich vorab mit spezifisch deutschen Standards und Empfindlichkeiten vertraut machen sollen, lässt sich durchaus als kolonialistischer Habitus verstehen. Nach dem Motto: Wer dieses Weltereignis leiten will, muss genauso auftreten wie Vertreter des westlichen Kunstbetriebs. Multikulti und Gender-Diversität sind en vogue und willkommen – aber nur, wenn diejenigen die gleiche Ausbildung absolviert haben, ähnliche Referenzen mitbringen und denselben Jargon sprechen wie wir.
Aus dieser Perspektive geht die Provokation von ruangrupa an sich aus: Diese Gruppe stellt mit ihrem egalitären, kollektivistischen und ökologischen Non-Profit-Kunstbegriff die Geschäftsgrundlage einer hoch profitablen Branche infrage. Damit erweisen sich alle postkolonial treuherzigen Beteuerungen, man begegne nichtwestlichen Akteuren auf Augenhöhe und achte deren Eigenheiten, einmal mehr als Lippenbekenntnisse. Weiße alte Männer (und ein paar Frauen) verteidigen ihre Privilegien im Kunstbetrieb genauso hartnäckig und skrupellos wie in allen übrigen Bereichen.
Ähnlich viele Besucher wie 2014
Allerdings schrumpft offenbar die Reichweite ihres Einflusses – und das ist die gute Nachricht: Das Publikum hat sich vom erbitterten Antisemitismus-Streit nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil: Anfang August zählte die documenta fifteen bereits 410.000 Besucher; kaum weniger als die 445.000 zur Halbzeit der documenta 14 vor fünf Jahren. Wahrscheinlich werden nach 100 Tagen Laufzeit zwischen 800.000 und 900.000 Menschen die aktuelle documenta gesehen haben; angesichts des publizistischen Gegenwinds ein beeindruckender Zuspruch.
Über dessen Ursachen kann vorerst nur spekuliert werden. Eine könnte der Streit selbst sein: Die Besucher wollen sich ein Bild machen, ob und inwieweit er begründet ist. Ein anderer Grund wäre, dass er als völlig übertrieben empfunden wird: Die Steine des Anstoßes dürften in den Augen vieler das mediale Geschrei darüber kaum rechtfertigen.
Event ohne Vorkenntnis-Zwang
Was auf ein prinzipielles Problem der Antiantisemitismus-Aktivisten hinweist: Die Zeit arbeitet gegen sie. Nicht nur, weil fast alle unmittelbaren Opfer des NS-Terrors mittlerweile gestorben sind – sondern auch, weil bei stetig wachsendem Anteil von Moslems an der Gesamtbevölkerung tendenziell deren Sympathie für Judentum und Israel abnehmen dürfte. Insofern lässt sich der Furor der documenta-Ankläger auch als Spätblüte des Themas begreifen.
Ein weiterer möglicher Grund wäre, dass ein Großteil der Besucher nicht zu den Kunstfreunden zählt, die Kritiken im Feuilleton lesen und auf Vernissagen parlieren. Sie sind eher Event-Touristen, die an der documenta schätzen, dass sie in gewisser Weise abseits des übrigen Kunstbetriebs stattfindet, in diesem Jahr mehr denn je. Man braucht kaum Vorkenntnisse, um das Gebotene zu goutieren – die hatten diesmal die Kunst-Profis auch nicht, denn die eingeladenen Drittwelt-Kollektive kannte im globalen Norden niemand.
Eher Sommerfestival als Kunstschau
Gefragt war stattdessen Offenheit, um sich auf überraschende Inhalte der Wundertüte documenta fifteen einzulassen. Das glückte: Die täglich rund 15 Veranstaltungen waren meist gut besucht, die zahllosen Führungen oft lange im Voraus ausgebucht – dass viele Beschäftigte über schlechte Bedingungen klagten, zählt zu den typischen Widersprüchen alternativer Arbeitsformen. Doch die Besucher erlebten eine entspannte, locker improvisierende Atmosphäre – eher ein großes Kreativ-Sommerfestival wie das alljährliche „Burning Man“ in Nevada oder „Fusion“ in Meck-Pomm als eine todernste Hochkunstschau.
Zudem bietet diese documenta etwas, was man bei den letzten Ausgaben weitgehend vermissen musste: Augenschmaus. Am üppigsten an den Standorten in Bettenhausen, einem Arbeiterviertel von Kassel: Im Hallenbad Ost breitet Taring Padi mehr als 100 Banner, Plakate und Stockpuppen aus den letzten 22 Jahren aus. Diese Werkschau macht auf den ersten Blick deutlich, dass Jüdisches in ihrem Schaffen schlicht keine Rolle spielt.
Wimmelbilder wie bei Bali-Moderne
Ihr geht es um den Kampf in Indonesien gegen Korruption, Nepotismus, Oligarchien, Umweltzerstörung und Diskriminierung – darauf können sich wohl alle linken Aktivisten weltweit einigen, von Greenpeace bis zu Trotzkisten. Einzigartig ist jedoch die Art der Darstellung. Zwar finden sich viele Versatzstücke sozialistischer Ikonographie wie rote Sterne, gereckte Fäuste und heldenhafte Volksmassen, die gegen Ausbeuter-Schweine im Wortsinne anrennen.
Doch sie bevölkern Wimmelbilder, deren horror vacui westlicher Kunst fremd ist: Jeder Quadratzentimeter wird bedeckt, Silhouetten der Figuren fließen nahtlos ineinander, jedes Bild ist ein in sich geschlossener Kosmos. Solche Kompositionen sind einerseits beeinflusst durch herkömmliche javanische Ornamentik, wie etwa bei Batik-Mustern. Andererseits dürften sie inspiriert sein von der Moderne auf Bali, die vom deutschen Maler Walter Spies und dem Niederländer Rudolf Bonnet in den 1920/30er Jahren entscheidend geprägt wurde.
Voodoo-Artefakte in katholischer Kirche
Noch eindrucksvoller erscheinen die Arbeiten von Atis Rezistans aus Haiti. Die Inselrepublik ist ein failed state mit kaputter Infrastruktur und voller Gewalt, aber auch eine kulturelle Großmacht in der Karibik. In der Hauptstadt Port-au-Prince veranstaltet die Gruppe seit 2009 eine „Ghetto Biennale“. Dafür stellt die wegen ihrer Spannbetondecke denkmalgeschützte Kirche St. Kundigundis von 1927, derzeit nicht in Betrieb, den perfekten Rahmen dar. Viele Exponate beziehen sich auf Voodoo; diese synkretistische Religion macht wiederum etliche Anleihen beim Katholizismus.
Vor der Kirche steht eine drei Meter hohe Schrott-Skulptur von Papa Legba, einem der wichtigsten Voodoo-Heiligen. In einer Kapelle drehen sich bunt glitzernde Zylinder um eine Madonnenfigur. Den Hauptraum dominieren mannshohe Plastiken; angelehnt an traditionelle Holzstelen aus Afrika, aber mit allerlei Zierat zu grotesk deformierten Gestalten aufgetakelt. Darunter reichlich Knochen und Schädel – deren Verwendung ist im Voodoo ebenso häufig wie im katholischen Reliquienkult.
Afrika + Asien stützen Europa
An der Wand bilden Ätzradierungen auf blauen Spiegeln eine Galerie haitianischer Militärs und Herrscher – ihre outrierten Empire-Uniformen sind ein frühes Beispiel für Kreolisierung. Nebenan sticht eine Foto-Collage im Stil barocker Allegorien hervor: zwei junge, dunkelhäutige Frauen namens „Afrika“ und „Asien“ stützen „Europa“, eine bleiche und gebrechliche Greisin. Prägnanter lässt sich nicht ausdrücken, wie die alte Welt von außerhalb betrachtet wird.
Im Gegensatz zu diesen beiden Solo-Shows bietet das Hübner-Areal, ein leer stehender Gewerbebetrieb, genügend Platz für mehrere Kunstkollektive. Die indonesische Jatiwang art Factory will eine Region wiederbeleben, in der Ziegel in Handarbeit hergestellt wurden, bevor dem Industrieproduktion den Garaus machte. Neben einer tönernen Weltkugel ist zu sehen, wie Banner mit Körperumrissen entstehen, indem sich Menschen mit Lehmstaub überpudern lassen.
Tänzer-Maske der Schöpfer-Antilope
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta fifteen: documenta Halle und Ottoneum" : Rundgang durch die beiden Ausstellungsorte
und hier einen Bericht über die "documenta fifteen: Fridericianum": Rundgang durch die zentralen Ausstellungsort
und hier eine Besprechung der "documenta fifteen" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst-Ausstellung 2022 in Kassel
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Hello World – Revision einer Sammlung" – grandiose Universalkunst-Schau der Moderne mit Wimmelbildern aus Bali im Hamburger Bahnhof, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Voodoo" - hervorragender Überblick über diese Weltreligion mit zeitgenössischer Kunst aus Haiti im Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim.
Solche Ethno-Artefakte hätten auf einer Ausstellung zeitgenössischer Kunst nichts zu suchen, rümpfen Kritiker die Nase. Indes: Wer dekretiert, dass allein das als Kunst gelten darf, was Kunsthochschul-Absolventen anfertigen und ihre Galeristen feilbieten? In weiten Teilen der Welt existiert kein Kunstmarkt im westlichen Sinne; dort gibt es aber sehr wohl viele kreative Köpfe, die ihre Anliegen mit allen möglichen Materialien ausdrücken.
Künftige Arbeitsteilung mit Venedig
Dafür wirkt die documenta fifteen horizonterweiternd: Erstmals können sie ihre Arbeiten einem europäischen Massenpublikum vorstellen. Und umgekehrt: Hunderttausende von Besuchern dürften erstmals so exotische Formensprachen wie die von indonesischen Wimmelbildern oder haitianischen Voodoo-Skulpturen kennen gelernt haben.
Vielleicht liegt die Zukunft der documenta in einer Art Arbeitsteilung mit der Biennale: In Venedig wird weiterhin Westkunst bekannten Zuschnitts gezeigt, die sich wie gewohnt vermarkten lässt. Und Kassel kümmert sich alle fünf Jahre darum, was die übrige Welt an bemerkenswert Neuem und Niegesehenem hervorbringt.