Cem Kaya

Liebe, D-Mark und Tod – Aşk, Mark ve Ölüm

Hatay Engin kokettiert mit einem Drag-Queen-Image à la Liberace. Foto: ©filmfaust / Rapid Eye Movies
(Kinostart: 29.9.) Zwölf Goldene Schallplatten, aber nie in der deutschen Hitparade: Die Musik türkischer Migranten spielt in einem Paralleluniversum. Ihre Geschichte breitet die Doku von Regisseur Cem Kaya als launiges Patchwork aus – eine faszinierende Expedition ins Unbekannte.

Dein Nachbar, das unbekannte Wesen: In deutschen Großstädten ist türkische Popmusik allgegenwärtig. Man hört sie aus zahllosen Autos und Döner-Imbissen – aber die meisten Biodeutschen ignorieren sie völlig. Selbst Namen türkischer Megastars wie İbrahim Tatlıses, Sezen Aksu oder Tarkan, der in Rheinland-Pfalz geboren wurde, sagen ihnen nichts.

 

Info

 

Liebe, D-Mark und Tod –
Aşk, Mark ve Ölüm

 

Regie: Cem Kaya,

96 Min., Deutschland 2022;

mit: İsmet Topçu, Ömer Boral, Yüksel Ergin, İhsan Ergin, Metin Türköz

 

Website zum Film

 

Daran änderte auch die Weltmusik-Welle der 1990er und 2000er Jahre wenig: Türkpop blieb in seinem Paralleluniversum. Nur deutschtürkische Rapper wie Kool Savas, Eko Fresh oder Haftbefehl begeistern auch biodeutsche Teenager – doch was ist an ihren HipHop-Beats türkisch?

 

Anders als im Mutterland

 

Dabei hatte sich in der alten Bundesrepublik eine türkische Populärmusik entwickelt, die sich von der im Mutterland deutlich unterschied, betont Filmemacher Cem Kaya. Er sieht sie als einen Schatz, den er mit seiner Doku vor dem Vergessen bewahren will. Schon er selbst, Jahrgang 1976, habe die Pionier-Generation deutschtürkischer Popstars erst bei den Recherchen zum Film kennengelernt, sagt er – obwohl sie seinerzeit enorm erfolgreich waren.

Offizieller Filmtrailer


 

Kanaken-Türkrock mit deutschen Texten

 

Als ab Anfang der 1960er Jahre Hunderttausende aus der Türkei als ‚Gastarbeiter’ in die Bundesrepublik kamen, waren vertraute Klänge die einzige Verbindung zur alten Heimat. Damit versorgte sie die Plattenfirma „Türküola“, die Yılmaz Asöcal 1964 gegründet hatte. Seine Ehefrau Yüksel Özkasap, die „Nachtigall von Köln“, war mit ihren rund 500 „Gurbet Türküleri“ („türkischen Liedern aus der Fremde“) so erfolgreich, dass sie zwölf Goldene Schallplatten erhielt – ohne dass ihre Titel in der deutschen Hitparade aufgetaucht wären.

 

Ähnlichen Zuspruch fanden Metin Türköz als Liedermacher-Sänger und Cem Karaca, ein Pionier des Anadolu-Rock: Er veröffentlichte mit „Die Kanaken“ 1984 das erste Album einer türkischen Rockband mit deutschsprachigen Songs. Während solche Lieder sich inhaltlich zwischen Heimweh-Nostalgie und Sozialkritik bewegten, entstand zugleich eine schillernde Szene reiner Unterhaltungsmusik.

 

Orient-Krautrock von Derdiyoklar

 

Kapellen, die bei den aufwändigen Hochzeiten aufspielten, hatten Melodien aus allen Regionen der Türkei im Repertoire, also auch kurdische und alevitische Weisen, um ihr gesamtes Publikum anzusprechen. Das Spektrum der Interpreten reichte von der Schnulzen-Diva Cavidan Ünal über den samtigen Sänger Hatay Engin, der mit Drag-Queen-Accessoires kokettierte, bis zum phänomenalen Duo „Derdiyoklar“.

 

Der Elektro-Saz-Virtuose Ali Ekber Aydoğan und der Schlagzeuger İhsan Güvercin nannten ihren Stil „Disco Folk“. Doch für westliche Ohren klingen ihre ausgedehnten, repetitiven Improvisationen eher nach orientalischem Krautrock – als würden anatolische Vorläufer von „The White Stripes“ Coverversionen von „Can“-Klassikern intonieren. Um ihre wilde Bühnenshow zu erleben, seien junge Türken aus halb Europa zu Hochzeitsfeiern angereist, bei denen Derdiyoklar auftrat, erzählt Regisseur Kaya – auch wenn sie nicht eingeladen waren.

 

Potlatsch auf Anatolisch

 

Mit wachsendem Wohlstand in den 1980er Jahren blühten glamouröse Gazino-Clubs auf; sie boten Live-Klänge bis spät in die Nacht. Plötzlich sei viel Geld im Umlauf gewesen, berichten Musiker wie Rüştü Elmas und İsmet Topçu: Wegen der Sitte, ihnen beim Auftritt Banknoten zuzustecken, hätten sie danach Scheine in allen Taschen und Ritzen gefunden. Zudem kam der bizarre Brauch auf, Dinge mit Rakı-Schnaps zu übergießen und anzuzünden – in der Türkei ist das völlig unüblich. Einmal habe ein betrunkener Gast lächelnd sein Jackett samt teurer Uhr verbrannt, mokiert sich Cavidan Ünal: Potlatsch auf Anatolisch.

 

Solche deutschtürkischen Seltsamkeiten verschwanden Mitte der 1990er Jahre: Via Satellitenfernsehen und Internet rückte die Türkei wieder näher, die dortige Popmusik verdrängte die Exilanten-Variante. Heutzutage sind Deutschtürken als Rapper präsenter und erfolgreicher als je zuvor – aber eben nicht mit türkischen Melodien. Ausnahmen wie Muhabbet, der R’n’B mit Arabeske-Pop mixt, bestätigen die Regel.

 

Blick auf Geschichte türkischer Migranten

 

All das breitet Regisseur Cem Kaya in verschwenderischer Fülle aus: mit Dutzenden Klangbeispielen aus entlegenem Archivmaterial, darunter vielen Privataufnahmen, und launigen Interviews mit den Protagonisten, die meist noch in Deutschland leben. Ihre Augen leuchten, wenn sie einstige Bühnentriumphe beschwören; stolz präsentieren sie riesige Platten- und Kassetten-Sammlungen mit den Hits von damals.

 

Ein hervorragend kompiliertes Zeitzeugen-Patchwork, wie schon in der famosen Doku „Remake, Remix, Rip-Off“ (2014) über die Yeşilçam-Filmindustrie. Beschränkte sich Cem Kaya mit dieser Chronik noch auf die Kinokultur in der Türkei, beleuchtet er diesmal auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: die arg vernachlässigte Geschichte türkischer Migranten in Deutschland. Von ärmlichen Anfängen über den Familiennachzug in den 1970/80er Jahren bis zu rassistischen Gewalttaten der 1990er Jahre und gelingender Integration seit 2000.

 

Deutschland als große Lüge

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Remake, Remix, Rip-Off" - großartige Doku über Yeşilçam-Kopierkultur und das türkische Pop-Kino von Cem Kaya

 

und hier eine Besprechung des Films "Dügün - Hochzeit auf Türkisch" über Heiratssitten unter Türken in Deutschland von Ayse Kalmaz und Marcel Kolvenbach

 

und hier einen Beitrag über den Dokumentarfilm "Balkan Melodie"  über Volksmusik in Südosteuropa von Stefan Schwietert

 

und hier einen Bericht über den Dokumentarfilm "Newo Ziro – Neue Zeit" über Musiker der Sinti + Roma in Deutschland von Robert Krieg + Monika Nolte.

 

Das wird etwas plakativ eingestreut, macht aber deutlich: Wie sehr sich soziale Stellung und Lebensgefühl von drei Millionen türkischstämmigen Mitbürgern gewandelt haben, nimmt die Mehrheitsbevölkerung kaum zur Kenntnis. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe in der Anfangsphase versäumt, die reiche Kultur der Zuwanderer via Radio und TV den Deutschen nahe zu bringen, bedauert ein Ex-Redakteur. Nun sei es zu spät; beide Gruppen lebten desinteressiert nebeneinander her.

 

Wobei die Ignoranz wechselseitig zu sein scheint. Viele Interviewte machen ihrer Enttäuschung Luft; dass sie sich abgelehnt fühlten, kränkt sie weiterhin. Über das Land, in dem sie seit Jahrzehnten leben, fällt kein gutes Wort. Im Gegenteil: Die Klagen entlassener Arbeiter 1973 gleichen denen von heutigen Rentnern. Deutschland sei „eine große Lüge“, schimpft die Ex-Diva Cavidan Ünal. Worin diese bestehe und warum sie trotzdem hier bleibe, erläutert sie nicht.

 

40 Jahre ohne türkischsprachige Songs

 

Sprachlosigkeit in beiden Richtungen. Ein gutes Beispiel dafür liefert der Filmtitel: „Aşk, Mark ve Ölüm“ ist ein Gedicht des deutschtürkischen Schriftstellers Aras Ören. Es wurde 1982 von der Band „Ideal“ mit rumpligem New-Wave-Rock vertont – für ihr drittes und letztes Album „Bi Nuu“, das ein Flop wurde. Ein Menetekel: Hat in den 40 Jahren seither irgendeine deutsche Popband Songs mit türkischen Texten gespielt?