Alles Gute kommt von oben: Die diesjährige Sommerdürre hat drastisch demonstriert, wie überlebenswichtig regelmäßige Niederschläge sind. Wobei es auf die Dosierung ankommt, wie katastrophaler Dauerregen und Überschwemmungen etwa in Pakistan deutlich machten. Lebensspendendes Nass verwandelt sich im Nu in eine tödliche Bedrohung.
Info
Wasser im Jugendstil –
Heilsbringer und Todesschlund
13.05.2022 - 23.10.2022
täglich außer montags
10 bis 17 Uhr,
dienstags + donnerstags bis 20 Uhr
im Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2, Wiesbaden
Katalog 39,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Brunnen im Museumsfoyer
1907 wurde das Kurhaus errichtet, 1913 das Kaiser-Friedrich-Bad. 1932 wurden direkt vor dem Hauptbahnhof die Herbert- und Reisinger-Anlagen gestaltet; Wiesbaden dürfte der einzige Ort sein, in der man vom Bahnhofsportal auf ausgedehnte Wasserbassins blickt. Dass die hessische Landeshauptstadt mit und von ihrem feuchten Element gut lebt, zeigt sich auch im 1920 eröffneten Museum: Architekt Theodor Fischer schloss das Foyer mit einem Apsisbrunnen ab. Darin stehen Putti auf Delphinen; dazwischen sprudelt es munter.
Feature zur Ausstellung. © Museum Wiesbaden
Exquisite Jugendstil-Schenkung 2017
Im Untergeschoss, quasi unter dem Wasserspiegel, schimmert im gedämpft bläulichen Licht die Sonderschau „Wasser im Jugendstil“ – und dem Symbolismus, darf man ergänzen, der ebenfalls mit etlichen Werken vertreten ist. Die Konzentration auf aquatische Motive dieser beiden Strömungen erscheint zweifach sinnvoll.
Erstens waren asymmetrisch fließende Formen in der Kunst um 1900 aus mehreren Gründen besonders populär. Zweitens schenkte der Kunsthändler Ferdinand Wolfgang Neess 2017 seine erstklassige Sammlung von rund 500 Jugendstil-Objekten aller Gattungen dem Museum; seither kann es bei dieser Stilrichtung aus dem Vollen schöpfen.
Kuratoren-Erklärfreude verebbt fix
Zum Auftakt erinnern Fotoserien an aufwändige Bäder-Architektur im südhessischen Raum Anfang des 20. Jahrhunderts; etwa im nahen Bad Nauheim. Dort entstand 1905/11 die Sprudelhof-Kuranlage, ebenfalls ein Jugendstil-Ensemble. 1934 wurde in einer Hanglage von Wiesbaden das Opelbad eingeweiht. Der Freibad-Komplex im modernistischen Stil mit prächtigem Fernblick war so populär, dass die Stadt mit Plakaten und Broschüren dafür warb.
Solche Einbettung in erläuternde Texte muss man in der Ausstellung selbst weitgehend vermissen. Dass viele Wasser-Darstellungen zwischen den Polen „Heilsbringer und Todesschlund“ pendeln, wie der Untertitel der Schau lautet, wird noch anschaulich erklärt – danach verebbt die Mitteilungsfreude der Kuratoren aber rasch. Im Hauptraum wirkt die Hängung der Werke ebenso willkürlich wie eingestreute Bezeichnungen für einzelne Abteilungen.
Ozean von Sex und Sünde
Obwohl das Thema etliche Dimensionen umfasst, die sich ausloten ließen. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Tiefsee förderten zahlreiche nie zuvor gesehene Lebewesen zutage; daher spezialisierte sich der Niederländer Gerrit Willem Dijsselhof auf Unterwasser-Gemälde von Fischschwärmen und Korallenbänken. Der Zoologe Ernst Haeckel publizierte 1899/1904 die Serie „Kunstformen der Natur“; sie führte Kreativen einen bislang ungeahnten Kosmos organischer Gestalten und Muster vor Augen, die umgehend aufgegriffen wurden.
Wichtiger als die realistische Auffassung der Meereswelt war aber ihre symbolische Dimension. Das Formlose und Opake der Ozeane wurde als Metapher für die Abgründe des Seelenlebens aufgefasst, was die Psychologie und wenig später die Psychoanalyse bestätigten. Bei dunkel wogenden Trieben lag die gedankliche Verbindung zu Sex und Sünde nahe: Darstellungen von Frauen am und im Meer wurden zu einem eigenständigen Subgenre.
Projektionsfläche vs. Akteurinnen
Von der schaumgeborenen Venus über verspielt planschende Nixen bis zur blassen Wasserleiche: Arnold Böcklin, Franz von Stuck, Max Klinger oder Ludwig von Hoffmann versorgten das männliche Publikum mit teils frivolen, teils schauerlichen Allegorien seiner erotischen Wünsche und Lüste. Weniger Projektionsfläche, eher eigenständige Akteurinnen sind dagegen Frauengestalten auf Bildern, deren Schöpfer der Lebensreform-Bewegung nahe standen.
Etwa „Die Windsbraut“ (1904) von Max Nonnenbruch: Sie steht mit im Nacken verschränkten Armen am Strand und blickt stolz auf die See hinaus. Mit Bubikopf-Kurzhaarfrisur und flatterndem, semitransparenten Gewand wirkt sie wie eine ältere Schwester der „Neuen Frauen“, die Filme und Fotografien der 1920er Jahre bevölkern sollten.
Neptun-Rosse mit Entenfüßen
Solche maritimen Powerfrauen konnten aber leicht ins Karikaturhafte kippen. Derartige Titelblätter für die Zeitschrift „Jugend“, die diesem Stil ihren Namen gab, entwarf Hans Christiansen. Da werfen sich fünf nackte Grazien in eine steile Welle und stemmen einander so empor, dass man nicht weiß: Handelt es sich um ein Artisten-Kunststück oder virtuose Liebestechnik? Geschmeidig fließende Gischt verlockt zu Anzüglichem, das an Land kaum erlaubt wäre.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Leidenschaft, Funktion und Schönheit" – umfassende Retrospektive des Jugendstil-Künstlers Henry van de Velde im Neuen Museum, Weimar
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Koloman Moser: Universalkünstler zwischen Gustav Klimt und Josef Hoffmann" – hervorragende Werkschau des Wiener Jugendstil-Multitalents in der Villa Stuck, München
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Dem Licht entgegen – Die Künstlerkolonie-Ausstellung 1914" – große Jugendstil-Schau im Institut Mathildenhöhe, Darmstadt
und hier eine Kritik des Films "River" – visuell eindrucksvolle Doku über den Lauf von Flüssen weltweit von Jennifer Peedom und Joseph Nizeti.
und hier einen Beitrag über den Film "Watermark" – spektakuläre Doku über die Erscheinungsformen von Wasser von Jennifer Baichwal + Edward Burtynsky.
Kurzkapitel in Katalog geschüttet
Dazu schweigt sich die Ausstellung aus; meist liefert sie nur kurze Bildbeschreibungen. Wenn überhaupt: In der Raummitte steht ein mit Kunsthandwerk gefülltes Vitrinen-Geviert. Viele der Vasen, Schalen und Gläser sind äußerst exzentrisch gestaltet – doch außer Entwurf, Werkstatt und Jahr erfährt man nichts. Ebenso wenig zum Besteck, dass im Inneren des Gevierts ausgebreitet wird.
Diese Wortkargheit gleicht der Katalog kaum aus. Seine mehr als 50 Kurzkapitel folgen keiner nachvollziehbaren Logik; manche beziehen sich auf ausgestellte Werke und Künstler, andere auf irgendwelche Detailfragen. Es wirkt, als habe man die Beiträge bestellt, bevor der Aufbau der Schau festgelegt wurde, und später einfach zwischen zwei Buchdeckel geschüttet.
Systematischer Wasser-Wert
Das überrascht umso mehr, als das Haus eine Etage höher vorführt, wie man es besser macht. Die naturwissenschaftliche Ausstellung „Vom Wert des Wassers“ widmet sich souverän systematisch allen Aspekte von H2O, angefangen von allen Wasserläufen in Wiesbaden bis zu neuesten Methoden der Wasserreinigung und -analyse: Aufklärung als schöne Kunst praktiziert.
Und in der Dauerausstellung der Jugendstil-Kollektion von Mäzen Neess werden sämtliche Exponate nicht nur ansprechend präsentiert, sondern auch kundig kommentiert. Das müssten die Kuratoren der nächsten Sonderschau einfach nur übernehmen.