Natalia Sinelnikova

Wir könnten genauso gut tot sein

Anna Wilczynska (Ioana Iacob) in der Wanne. Foto: © Eksystent Filmverleih
(Kinostart: 29.9.) Mikrokosmos Luxushochhaus: In einer bissigen Parabel auf unsere überängstliche und konformitätsbesessene Gesellschaft lotet Regisseurin Natalia Sinelnikova die Grenzen der Anpassung aus. Ein wagemutiges Debüt in hyperrealen Bildern mit beeindruckendem Soundtrack.

Wir hier drinnen, die da draußen: Familien, Dorfgemeinschaften, Nationen und Religionen beruhen auf diesem Narrativ. So werden Individuen und Gruppen als zugehörig oder fremd markiert. Die Bewohner eines Luxushochhauses inmitten eines ausgedehnten Waldgebietes haben sehr genaue Vorstellungen darüber, wer zu ihnen passt und wer nicht. In einer bedrohlichen Umwelt, deren Gefahren allerdings nur angedeutet werden, bietet das Haus eine sichere Insel. Entsprechend anspruchsvoll ist der Bewerbungsprozess um die begehrten freien Wohnungen. Ein Komitee aus alteingesessenen Bewohnern entscheidet über Neuaufnahmen.

 

Info

 

Wir könnten genauso gut tot sein

 

Regie: Natalia Sinelnikova,

93 Min., Deutschland 2022;

mit: Ioana Iacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf, Şiir Eloğlu

 

Weitere Informationen zum Film

 

Natürlich ist man offen für Diversität und Multikultur, aber bitte im Rahmen der Hausordnung. Nonkonformes oder spontanes Handeln wird nicht geduldet und führt zum Ausschluss. Wenn man Glück hat, muss man nur eine Nacht draußen verbringen: Wie der Hausmeister Gerti (Jörg Schüttauf), dessen Hund verschwunden ist und der deswegen im Haus Rabbatz macht. Diesem Aufruhr folgt die zunehmende Verunsicherung der Hausgemeinschaft – bis ein absurdes Missverständnis eine Eskalationsspirale in Gang setzt.

 

Ein ehrenwertes Haus

 

Im Zentrum des Geschehens steht  Anna (Ioana Iacob). Die ebenso strenge wie korrekte Wachfrau sorgt seit sechs Jahren für die Sicherheit des Hauses und seiner Bewohner. Nur ein leichter osteuropäischer Akzent verrät, dass Anna noch eine andere Geschichte zu erzählen hätte – wenn sie sich denn zu einer privaten Plauderei hinreißen ließe. Doch Anna wahrt eine freundlich-professionelle Distanz zu ihrer Umwelt.

Offizieller Filmtrailer


 

Angst im Bad

 

Nur ihre beste Freundin Zeynep (Özlem Sagdiç) weiß, dass sich Annas halbwüchsige Tochter Iris (Pola Geiger) seit einiger Zeit im Bad eingeschlossen hat und sich kategorisch weigert, herauszukommen. Sie glaubt, dass sie selbst mit ihrem bösen Blick Gertis Hund verschwinden ließ. Das erscheint zutiefst irrational – ist aber im Grunde nur die Reaktion des Teenagers auf die Sicherheits-Besessenheit und Harmoniesucht der Hausgemeinschaft.

 

Solche irrealen, beinahe absurden Momente flicht Regisseurin Natalia Sinelnikova immer wieder in ihren Film ein. Damit bewahrt sie „Wir könnten genauso gut tot sein“ vor fingerzeigendem Moralismus, der leicht in Plattitüden mündet: Dass die Hochhausgemeinschaft eine Parabel auf die Überängstlichkeit und Anpassungssucht unserer oftmals so kleinlichen Filterblasengesellschaft ist, ist von Anfang an offensichtlich.

 

Hohe Zäune, grauer Himmel

 

Hintergrund

 

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und hier einen Beitrag über den Film "Blutsauger" - marxistische Vampir-Komödie von Julian Radlmaier

 

Ungewöhnlich für einen deutschen Film – zumal für ein Langfilmdebüt – ist der Mut zur eigenen Bildsprache. Die faszinierende Architektur des Hauses, seine Umgebung und die Bewohner werden in einem klinischen Hyperrealismus gezeigt. Die Bilder sind so sauber wie die überwiegend in Weiß- und Beigetönen gekleideten Menschen. Kräftige Farben kommen nicht vor, alle Leidenschaften sind gezähmt – auch die Natur: Ein akkurat gemähter Golfplatz umgibt das Haus, ein hoher Zaun trennt das Gelände vom herbstlichen Wald. Darüber wölbt sich ein ewig grauer Himmel.

 

Die Bilder werden von einem ausgetüftelten Klangkonzept getragen – auch das findet man bei heimischen Produktionen selten. In Sinelnikovas Film wird der Score nicht auf Untermalung reduziert, sondern bildet eine eigene Ebene. Viele Szenen sind mit einem dissonanten, elektronischen Klangteppich unterlegt – zunächst kaum wahrnehmbar, dann unterschwellig beunruhigend. Ganz im Gegensatz dazu ist in anderen Szenen Gesang zu hören – acapella, polyphon und glockenhell.

 

Hauptdarstellerin Ioana Iacob verleiht ihrer wortkargen, stoischen Anna das genau kalkulierte Gebaren eines überangepassten Menschen. Als nicht einheimische und alleinerziehende Frau steht ihr Leben permanent unter Bewährung. Anna versucht unter allen Umständen, korrekt zu sein: Auf Bestechungsversuche geht sie nicht ein, ihre Meinung behält sie weitgehend für sich. Und doch sieht man im nuancierten Spiel Iacobs, wie sehr sie diese inneren Verrenkungen belasten und wie sie die zunehmende Hysterie im Haus irritiert. Ganz dazugehören wird sie nie – egal, wie sehr sie sich darum bemüht.