Daniela Abke

Belleville. Belle et Rebelle

Gäste im Vieux Belleville. © Copyright: Coccinelle Films
(Kinostart: 13.10.) Wie aus der Zeit gefallen: Das Café Musette „Vieux Belleville“ im gleichnamigen Pariser Stadtteil ist ein Anlaufpunkt für sangesfreudige Nonkonformisten. Sie porträtiert Regisseurin Daniela Abke liebevoll, einfühlsam und völlig unsentimental in stimmungsvollem Schwarzweiß.

Paris lässt wahrscheinlich niemanden kalt. Frankophile Kulturfreunde haben zur französischen Hauptstadt meist ein recht rührseliges Verhältnis – sei es wegen aufregend-anregender Urlaubstage oder auch nur durch Erinnerungen an viele Kinofilme, die dort spielen. Der Dokumentarfilm von Daniela Abke begibt sich in ein Paris abseits ausgetretener Touristenpfade. Dort scheint es immer noch zuzugehen wie in den 1960er Jahren, als François Truffaut hier Außenaufnahmen für seinen Klassiker „Jules et Jim“ von 1962 drehte.

 

Info

 

Belleville. Belle et Rebelle

 

Regie: Daniela Abke,

98 Min., Deutschland/ Frankreich 2022;

mit: Riton la Manivelle, Minelle, S.C. Turner, Lucio Urtubia, Joseph Pantaleo

 

Weitere Informationen zum Film

 

Mittelpunkt von Abkes einfühlsamem und völlig unsentimentalen Stadtteil-Porträt ist das „Vieux Belleville“; ein Café Musette mit musikalischer Abendunterhaltung in der gleichnamigen Gegend, die auf einem Hügel liegt und zum 20. Arrondissement gehört. Das traditionelle Einwandererviertel hat eine bewegte Geschichte: In der Nachbarschaft leben Menschen aus rund 120 Nationen auf engem Raum miteinander. Hier sind noch Fassadenkratzereien erhalten, die an die Pariser Commune von 1871 erinnern; auf dem Friedhof liegt Eugène Pottier, der den Text zur „Internationale“ dichtete.

 

Piaf-Liederabend zum Mitsingen

 

Man kennt und trifft sich im Café; entweder nur zum Feierabend-Gläschen oder beim Piaf-Liederabend zum Mitsingen. Dabei lassen alle Akteure freimütig die Regisseurin an ihrem Leben teilnehmen. Etwa der– inzwischen verstorbene – baskische Anarchist Lucio Urtubia, der ein Kulturzentrum betreibt, das allen offen steht, und zugleich glühend Frankreichs Kultur verteidigt, weil er hier eine neue Heimat gefunden hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Treppen-Motive von Cartier-Bresson

 

Für Unterhaltung sorgen Originale wie die Sängerin Minelle mit Akkordeon und Piaf-Repertoire oder Riton la Manivelle, schnauzbärtiger Bariton und Drehorgelspieler: Er hat sich auf alte Klassenkampf-Chansons spezialisiert und gibt nebenbei noch ein wenig Geschichtsunterricht. Stillere Zeitgenossen sind Robert Bober, ein Fotograf, Autor und einst Regieassistent von Francois Truffaut, der britische Stillleben-Maler Steven sowie Joseph, der Besitzer und die Seele des Cafés. Er hat mit diesem Ort für jedermann auch den Traum seines Vaters erfüllt, der in den 1960ern aus Tunis nach Paris kam.

 

Regisseurin Abke lässt sich ganz auf ihre Protagonisten ein. Sie schaut ihnen buchstäblich beim Leben zu, beim Politisieren mit Freunden oder auch beim Räsonnieren. Robert Bober erzählt nicht nur von seiner Mitarbeit bei Truffaut, sondern auch von seiner Passion für die Fotografie. Das eröffnet eine weitere Ebene über die Geschichte des Viertels. Die findet sich etwa auf Aufnahmen von Henri Cartier-Bresson; er fand auf den treppenreichen Hügeln manche seiner bekannten Motive, die inzwischen nicht mehr existieren.

 

Jogger als Gentrifizierungs-Vorboten

 

Dass Paris seit den 1960er Jahren einen großen Stadtumbau nach dem anderen erlebt hat, lässt sich im „Vieux Belleville“ leicht vergessen. Das Café scheint vor allem abends wie aus der Zeit gefallen, wenn mindestens drei Generationen gemeinsam altbekannte französische Lieder anstimmen, einfach nur zum Spaß. Kollektives Singen ist in Frankreich bis heute viel populärer als hierzulande.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Wo in Paris die Sonne aufgeht" – wunderbare Tragikomödie über eine Vierecksbeziehung von Jacques Audiard

 

und hier eine Besprechung des Films "Aznavour by Charles" – eindrucksvolle Filmbiographie des französischen Chansonnier von Marc di Domenico

 

und hier einen Beitrag über den Film "Robert Doisneau – Das Auge von Paris" – informative Doku über den Fotografen von Clémentine Deroudille

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Die Geometrie des Augenblicks" zur Landschafts-Fotografie von Henri Cartier-Bresson im Kunstmuseum Wolfsburg.

 

Nebenbei führt der Film vor, dass auch in Belleville nicht nur eitel Sonnenschein herrscht. Früher durchzogen enge, düstere Gassen die Gegend, wie Wirt Joseph dem Maler Steven erklärt. Bei Tageslicht wird auch sichtbar, wie multiethnisch gemischt die hiesige Bevölkerung ist. Dazwischen mischen sich ein paar versprengte Touristen und gestylte Jogger, als Vorboten einer wohl auch hier drohenden Gentrifizierung.

 

Filmdenkmal macht gute Laune

 

Das alles zeigt die Regisseurin in sorgfältig komponierten Schwarzweiß-Bildern, womit sie die Aufmerksamkeit auf ihre Protagonisten lenkt: auf ihre Marotten, wie Minelles überbordende Sammelwut, und ihre teilweise abenteuerlichen Lebensläufe. Die schillerndste Figur ist gewiss Lucio; nach ihm fahndete schon Interpol wegen Scheckfälscherei.

 

Zugleich verkörpert er die im Viertel gelebte Toleranz, die Widersprüche ausgleicht: Lucio ist mit seinem ehemaligen Haftrichter befreundet. Ihm und dem „Vieux Belleville“, dem vielleicht letzten Lokal seiner Art in der Kapitale, setzt Regisseurin Abke ein liebevolles filmisches Denkmal. Es anzuschauen, macht extrem gute Laune, selbst wenn man die ausgiebig vorgetragenen Lieder nur wortlos mitsummen kann.