Susanne Regina Meures

Girl Gang

Leonie setzt sich in Szene. Foto: Rise and Shine Cinema
(Kinostart: 20.10.) Glitzer-Girlie im Konsum-Wunderland: Eine Influencerin hat in den Sozialen Medien enormen Erfolg, indem sie ihr ganzes Leben für die Kamera inszeniert. Welch hohen Preis das Mädchen dafür zahlt, zeigt Regisseurin Susanne Regina Meures in ihrer sensiblen Langzeitbeobachtung.

„Folgt mir“ ist das Lebensmotto von Leonie alias Leoobalys. Bereits im zarten Alter von 13 Jahren begann das hübsche Mädchen mit den langen roten Haaren, Videos und Fotos in diversen sozialen Medien zu posten. Mit durchschlagendem Erfolg: In kurzer Zeit erreichte ihr Leoobalys-Account so viele Teenies, dass erste Werbekunden aufmerksam wurden. Daraufhin gaben ihre Eltern Andreas und Sani ihre Jobs auf, um ihre Tochter zu managen.

 

Info

 

Girl Gang

 

Regie: Susanne Regina Meures,

97 Min., Schweiz 2022;

mit: Leonie

 

Website zum Film

 

Die heute 18-jährige Berlinerin hat mittlerweile über 1,6 Millionen Follower auf Instagram, auf Tiktok sind es nicht viel weniger. Auch auf Youtube ist sie aktiv. Auf ihren Accounts sieht man aktuell viel Mode, Schminktipps, Strandkulissen, Tanzeinlagen und natürlich Werbung für diverse Marken. Alles professionell produziert und locker-flockig vorgetragen. Im Leben von Leoobalys scheint permanent die Sonne.

 

Aufnahmen sprechen für sich

 

Mit ihrer Langzeitbeobachtung „Girl Gang“ gelingt es Dokumentarfilmerin Susanne Regina Meures, hinter die inszenierte Leichtigkeit zu schauen, ohne ihre Protagonistin zu beurteilen oder gar vorzuführen. Sie moralisiert nicht gegen die ach so böse Scheinwelt der Sozialen Medien, sondern lässt die im Laufe von vier Jahren entstandenen Aufnahmen für sich sprechen.

Offizieller Filmtrailer OV


 

Plattform für product placement

 

Einen subtilen Kommentar setzt die Filmemacherin aber doch: Am Anfang und Ende steht eine Metapher als Klammer, die in Märchenform von Smartphones als kleinen schwarzen Spiegeln erzählt, deren Magie alle Mädchen der Welt miteinander verbindet. Zudem nutzt Meures sakrale Musik als Kontrapunkt zum profanen Geschehen vor der Kamera.

 

Denn die Inszenierung von Leonies Leben als Teenager-Traum wird schlicht und einfach zum Geldverdienen benutzt. Die Popularität von Influencern in Sozialen Medien bietet Firmen eine Plattform für geschicktes product placement bei der kaufkräftigen Zielgruppe. Weder Leonie noch ihre Eltern hinterfragen jedoch, was sie tun. Der Erfolg gibt ihnen schließlich recht.

 

Tochter ernährt ganze Familie

 

Dass er hart erarbeitet ist, steht außer Frage. Der Familienalltag ist eng durchgetaktet; schließlich muss neben Schule und Fußballtraining ständig neuer content produziert werden. Oft bearbeitet Leonie bis mitten in der Nacht ihre Fotos und Videos. Sich mal gehen lassen, mit Freunden rumhängen und blödeln – all das, was in der Pubertät normal ist, scheint es in ihrem Leben nicht zu geben. Unwillkürlich fragt man sich, ob sie nicht jeden Moment für die Sozialen Medien ausbeutet.

 

Kein Wunder, dass die Stimmung in der Familie zunehmend gereizter wird – mittlerweile hängt das ganze Einkommen vom Erfolg der Tochter ab. Auch dabei vermeidet Regisseurin Meures, den Akteuren eindeutige Täter- und Opferrollen zuzuweisen. Die Eltern wollen ihre Tochter beschützen, indem sie etwa negative Kommentare unter Leonies Posts löschen. Zugleich leidet vor allem die Mutter darunter, dass sich alles nur noch um ihre Tochter dreht. Ihre Lösung: Sie wird ebenfalls als Influencerin aktiv.

 

Bis zu 17 Stunden täglich Online-Fan

 

Diesen Aspekt streift der Film allerdings nur am Rande. Stattdessen zeigt er die Gegenperspektive: Melanie aus Bad Tölz ist ungefähr so alt wie Leonie und ihr größter Fan. Sie hängt 12 bis 17 Stunden pro Tag am Handy, um ihrer Leidenschaft für Leoobalys nachzugehen. Ihre Verehrung grenzt schon an Hysterie – so reagiert sie völlig fassungslos, als ihr Instagram-Account versehentlich gelöscht wird. Als hinge ihr Leben davon ab.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Raving Iran" – Dokumentation über Teherans Underground-Techno-Szene von Susanne Regina Meures

 

und hier eine Besprechung des Films "Pornfluencer" - Dokumentation über Amateurporno-Filmer von Joschka Bongard

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Link in Bio. Kunst nach den sozialen Medien" im Museum der bildenden Künste, Leipzig.

 

Warum Melanies Eltern dem nicht gegensteuern, blendet die Doku aus. Erst als das Mädchen beginnt, Freundschaften mit realen Gleichaltrigen aus ihrem Umfeld zu schließen, gelingt es ihr, auf Distanz zu ihrem Internet-Idol zu gehen. Befremdlich erscheinen auch die Szenen, in denen Scharen junger Fans in einem Einkaufszentrum auf Leonie warten. Dabei schlagen sie derart über die Stränge, dass die Lage außer Kontrolle zu geraten droht – quasi Digital-Beatlemania im 21. Jahrhundert.

 

Alles zielgruppengerecht vermarkten

 

Andererseits geht es auf vielen Konzerten berühmter Popstars ähnlich zu; jede Zeit hat ihre Helden. So erscheint in diesem Psychogramm eines heutigen Teenie-Idols und seiner Anhänger vieles bekannt;  geändert haben nur die Ausdrucksformen sowie Geschwindigkeit und Direktheit der Interaktionen. Leonie ist so erfolgreich, weil sie zugänglich und vertraut erscheint – als etwas perfektere Version ihrer Fans.

 

Diese Sehnsucht nach glänzenden Vorbildern ist ebenfalls nicht neu – wohl aber, wie sehr die Grenzen zwischen der Realität und ihrer Inszenierung verwischt werden. Um möglichst alles optimal zielgruppengerecht zu vermarkten: Was bei Konsumgütern anfängt, macht vor Politik nicht halt.