Thomas von Steinaecker

Werner Herzog – Radical Dreamer

Werner Herzog vor seiner Hütte in den bayerischen Bergen. © Copyright: 3B Produktion
(Kinostart: 27.10.) Die Welt als Abenteuerspielplatz – ihn hat Werner Herzog bis an die Grenzen des Sichtbaren ausgelotet. Höhepunkte seines Riesenwerks von 70 Filmen lässt Thomas von Steinaeckers Doku unprätentiös Revue passieren; eine wunderbare Würdigung zum 80. Geburtstag.

In dieser Doku gibt es viele überraschende Momente – doch eine Szene lässt den Atem stocken. Making-of-Aufnahmen von „Aguirre, der Zorn Gottes“ (1972) in Peru zeigen, wie Werner Herzog sich nackt in einen Tümpel mitten im Urwald stürzt. Euphorisch schwimmt und planscht er im schlammigen Wasser, völlig unbekümmert, ob in der trüben Brühe Parasiten oder Ärgeres lauern könnten. Filmteam und Indio-Komparsen schauen vom Ufer aus entgeistert zu.

 

Info

 

Werner Herzog – Radical Dreamer

 

Regie: Thomas von Steinaecker,

90 Min., Deutschland/ USA 2022;

mit: Werner Herzog, Wim Wenders, Christian Bale, Chloé Zhao

 

Weitere Informationen zum Film

 

Lebensgefahren bei Dreharbeiten hat Herzog mehr als einmal getrotzt. Bei „Cerro Torre – Schrei aus Stein“ am gleichnamigen Berg in Patagonien überraschten ihn und seine Begleiter ein Schneesturm: 55 Stunden hätten sie in Eishöhlen ausharren müssen, bis ein Hubschrauber sie rettete, erzählt er. Die Arbeit an „Auch Zwerge haben klein angefangen“ (1970) war so strapaziös, dass Herzog gelobte, er würde in einen Kaktus springen, wenn alle Beteiligten überlebten. Das taten sie, Herzog sprang – und litt ein halbes Jahr an seinen Verletzungen.

 

Wenig Brot + keine Regeln

 

„Absolut angstfrei“ nennt ihn sein Regisseur-Kollege Wim Wenders; das sei sein Erfolgsgeheimnis. Um dessen Kraftquelle zu finden, sucht von Steinaecker mit Herzog dessen Ort seiner Kindheit auf: das oberbayerische Bergdorf Sachrang. Hier wuchs er vaterlos mit seiner Mutter und zwei Brüdern in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit auf. „Es gab wenig Brot, aber auch keine Regeln“, erinnert sich Herzog: „Wir machten unsere eigenen Regeln.“ So brachten sich die Brüder selbst bei, wie man Forellen im Bach mit bloßen Händen fängt.

Offizieller Filmtrailer


 

Suche nach unverbrauchten Bildern

 

Mit 14 Jahren trampte Herzog durch Jugoslawien und Griechenland, auf dem Gymnasium arbeitet er nachts als Schweißer in einer Stahlfabrik. Als 19-Jähriger stellte er seinen ersten Kurzfilm fertig, im Folgejahr gründete er seine eigene Produktionsfirma. Mit nur 24 Jahren drehte er seinen ersten Spielfilm: „Lebenszeichen“ brachte ihm prompt einen Silbernen Bären bei der Berlinale 1968 und einen Deutschen Filmpreis ein.

 

Dieses Debüt enthält eine Schlüsselszene, die quasi Herzogs’ gesamtes Schaffen präfiguriert: Ein Wehrmachtssoldat, der auf einer Ägäis-Insel stationiert ist, verliert beim Anblick eines Tals voller sich drehender Windmühlen den Verstand. Der langsame Schwenk über Hunderte kreisender Flügelräder verstört noch heute, wie von Steinaecker vorführt. Sein daraus abgeleitetes Credo formulierte Herzog schon Anfang der 1970er Jahre in einem TV-Interview. Illustrierte und Fernsehen zeigten, wie abgenutzt die meisten Bilder seien, sagt er: Ihm liege daran, neue und unverbrauchte Bilder zu finden.

 

Team entrinnt Flugzeugabsturz

 

Dem widmet er sich seit 60 Jahren in rund 70 Filmen. Die wichtigsten spricht von Steinaecker in lockerer chronologischer Folge an, kommentiert durch Weggefährten und Herzog selbst. Angefangen mit dem „Aguirre“-Kolonialdrama mit Klaus Kinski in der Hauptrolle, das unter chaotischen Bedingungen in Peru entstand – und beide international bekannt machen sollte.

 

Alle mussten laufend improvisieren, betont Herzogs langjähriger Kameramann Thomas Mauch. Als ein Fluss plötzlich Hochwasser führte, wurde das spontan in die Filmhandlung eingebaut. Beim Rückflug entging das Team nur dem Tod, weil es in einer überbuchten Maschine keine Plätze mehr gab – sie stürzte prompt ab. Über die einzige Überlebende der Katastrophe drehte Herzog 1998 eine weitere Doku.

 

Feuerkopf mit brennenden Haaren

 

Ähnlich dramatisch verlief die Entstehung von „Fitzcarraldo“ (1982), seinem wohl berühmtesten Film. Ursprünglich hatte Jason Roberts die Titelrolle eines Opern-Impresario in Amazonien übernommen, Mick Jagger spielte seinen Gehilfen. Dann wurde Roberts krank, Jagger ging mit den Rolling Stones auf Tournee – und Herzog engagierte für die Hauptrolle abermals Kinski. Die zentralen Passagen, in denen ein Dampfschiff manuell über einen Hügel zwischen zwei Flüssen gezogen wird, waren für alle Beteiligten eine Tortur. Sie wurden zu Herzogs Erkennungsmerkmal: des Mannes, der ein Schiff über einen Berg schleppen ließ.

 

Das wissen auch alle US-Gesprächspartner, die von Steinaecker interviewt. 1996 emigrierte Herzog, von der deutschen Filmbürokratie genervt, nach Los Angeles: Sein Selbstverständnis als Macher alles Machbaren kam im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gut an. Ihm eilte ein schillernder Ruf voraus: Als er die Hauptrolle in „Rescue Dawn“ (2006) annahm, erzählt Hollywood-Star Christian Bale, habe er sich Herzog als Feuerkopf vorgestellt, dessen Haar in Flammen stünde. „Totales Chaos“ habe er vor den Dreharbeiten zu „Queen of the Desert“ (2015) erwartet, ergänzt Robert Pattinson. Doch alles sei gut organisiert und reibungslos abgelaufen, so beide unisono; sie hätten wohl Herzog mit Kinskis Wüterich-Image verwechselt.

 

Listenreicher Odysseus der Filmbranche

 

Oder mit den extremen Sujets seiner Dokumentarfilme: Herzog hat brennende Ölquellen, ewiges Eis, Sand- und Salzwüsten, Unterwasseraufnahmen aus der Antarktis, lavaspuckende Vulkane und alles dazwischen abgelichtet, was ihm neben Bewunderung auch den Vorwurf des Sensationalismus eintrug. Auf der Suche nach beeindruckenden Bildern habe er den gesamten Globus abgegrast, stellt Chloé Zhao fest, deren Prekariats-Drama „Nomadland“ 2021 drei Oscars gewann – doch dabei eigentlich stets den gleichen Film gedreht, wie etliche Regisseure.

 

Herzogs Helden sind meist Außenseiter, die sich gegen übermächtige Umstände auflehnen und schließlich scheitern, an sich selbst oder ihrer Umwelt. Mit diesem Handlungsmuster antiker Tragödien spiegelt der Regisseur letztlich seine eigene Position in der Filmbranche: die eines Einzelgängers, der unter Aufbietung aller Kräfte noch seine abseitigsten Visionen zu bewegten Bildern werden lässt. Wobei er, dem listenreichen Odysseus gleich, gottlob meist nicht scheitert.

 

Exemplarisches neuzeitliches Individuum

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Werner Herzog" – ausführliche Werkschau zum 80. Geburtstag in der Deutschen Kinemathek, Berlin

 

und hier eine Besprechung des Films "Königin der Wüste – Queen of the Desert" – malerisches Orient-Historienepos mit Nicole Kidman von Werner Herzog

 

und hier einen Bericht über den Film "Salt and Fire" – Öko-Katastrophen-Thriller von Werner Herzog mit Veronica Ferres + Michael Shannon.

 

und hier einen Beitrag über den Film "Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel" - grandioses Psychogramm eines 29 Jahre weiterkämpfenden japanischen Weltkriegs-Soldaten von Arthur Harari.

 

Mehr noch: Mit seinem unbedingten Willen, völlig unabhängig zu agieren, repräsentiert Herzog das exemplarische neuzeitliche Individuum. Seit einem halben Jahrtausend schwärmt es aus, um Entdeckungen zu machen und unbekanntes Terrain zu erobern, von Kolumbus bis Elon Musk. Die Expansion des europäischen Geistes in alle Weltgegenden und Wissenssphären hat Herzog in seinem Schaffen nachvollzogen, soweit das einem Filmemacher möglich ist.

 

Wobei er stets dessen Grenzen auslotete: am Unsichtbaren, Geheimnisvollen und Irrationalen wie den Träumen. Diese Schnittflächen von Fakten und Fiktionen nennt er „ekstatische Wahrheiten“. Nun endet das epochale Ausgreifen: Alles scheint vermessen, kartiert, beschrieben und in Serverfarmen gespeichert. Woher sollen noch neue Welt-Bilder kommen? Deshalb kokettiert Herzog mit der Vorstellung, sein schmales literarisches Œuvre – vier Bücher – werde sein filmisches Riesenwerk überdauern.

 

Uomo universale des Autorenkinos

 

Er hat seinen bislang einzigen Roman von 2021 Hirō Onoda gewidmet: Der japanische Soldat versteckte sich bis 1974 auf einer Pazifikinsel, weil er das Kriegsende 1945 nicht mitbekommen hatte – oder genauer: nicht wahrhaben wollte. Noch ein Einzelkämpfer-Schicksal am Rande des Wahnsinns, eines Herzog-Spielfilms würdig.

 

Klar gegliedert und einfallsreich bebildert, macht Thomas von Steinaeckers Doku ganz unprätentiös und unpathetisch deutlich, welch einzigartige Erscheinung Werner Herzog ist – der uomo universale unter den deutschen Autorenfilmern. Das Kino wird ihn sehr vermissen, wenn er einmal nicht mehr da ist.