Ulrich Seidl

Rimini

Immer noch eine Rampensau: Auch im höheren Alter lebt Richie Bravo (Michael Thomas) für und auf der Bühne – zur Freude seiner überwiegend weiblichen Fans. Foto: © Neue Visionen Filmverleih
(Kinostart: 6.10.) Nur die Liebe zählt: Regisseur Ulrich Seidl porträtiert einen abgetakelten Schlagerfuzzi, der in der Nachsaison Rentnerinnen mit Schnulzen und mehr beglückt. Diese dubiose Rampensau spielt Michael Thomas mit derartiger Verve, dass man flugs seinem Fanclub beitreten will.

Das Wort „abgehalftert“ könnte eigens für Richie Bravo (Michael Thomas) erfunden worden sein. Einst war der Schlagersänger eine große Nummer im Showgeschäft, aber das ist lange her. Bei seinem unaufhaltsamen Abstieg ist er inzwischen im Souterrain der Branche angekommen: Zur Winterzeit, wenn das Saisongeschäft an den Adriastränden ruht, unterhält er in leer stehenden Hotels von Rimini deutsche Bus-Touristinnen im reifen Alter.

 

Info

 

Rimini

 

Regie: Ulrich Seidl

114 Min., Österreich/ Frankreich/ Deutschland 2022;

mit: Michael Thomas, Tessa Göttlicher, Hans-Michael Rehberg

 

Weitere Informationen zum Film

 

Diese Auftritte sind eine Klasse für sich. Zuvor kaschiert Richie seine Wampe mit einem Bauchgurt, zwängt sich in seinen goldenen Plastikanzug und kippt ein paar Wodka – weil man davon keine Fahne bekomme, sagt er: Das sei ein alter Sängertrick. Dann begrüßt er seine betagten Fans mit Kalender-Sprüchen über das Leben und die Liebe. Los geht’s: Die Musik spielt ein asiatischer Assistent aus der Karaoke-Maschine ein. Und Richie schmettert mit kräftiger Stimme Schnulzen über die tausend verführerischen Trugbilder von Amore.

 

Meilenstein des erotischen Naturalismus

 

Hellauf begeistert sind die Zuhörerinnen, wenn er von der Bühne mit Glitzervorhang herabsteigt, sich zu ihnen beugt und die Strophen in ihre Ohren haucht. Das darf man als Geschäftsanbahnung verstehen: Nach der Show steht Ritchie ihnen noch für Liebesdienste zur Verfügung – gegen Barzahlung, versteht sich. Die Bettszenen in engen Hotelzimmern nimmt Regisseur Ulrich Seidl schonungslos direkt und ungekürzt auf – ein Meilenstein des erotischen Naturalismus in einer alternden Gesellschaft.

Offizieller Filmtrailer


 

Von der Theke in die Spielhalle

 

Mit dem Geschäftsmodell Goldkehle-plus-Gigolo finanziert Richie seinen unkonventionellen Lebensstil: nach dem Aufwachen als erstes ein kaltes Dosenbier. Danach genehmigt er sich gern an diversen Theken einen Drink oder zwei. Zur Zerstreuung kehrt er in Spielhallen ein und füttert stundenlang Daddelautomaten. Damit ihm das Kleingeld nicht ausgeht, vermietet er seine „Villa“ – eher ein renovierungsbedürftiges Penthouse voller PR-Plunder – an besonders treue Fans wie Emmi Fleck (Inge Maux) mit ihrem solventen Gatten.

 

Ginge es nach Richie, könnte es wohl ewig so weiter laufen. Doch eines Tages holt ihn seine Vergangenheit ein: in Gestalt seiner erwachsenen Tochter Tessa (Tessa Göttlicher), die er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat. Sie pfeift auf rührselige Sprüche und schale Witze, sondern will Bares sehen: seine ausstehenden Unterhaltszahlungen, und zwar sofort. Ihr Vater spürt, dass er sich diesmal nicht mit Gags und Tremolo in der Stimme herauswinden kann. Er muss sich etwas einfallen lassen, und das tut er auch: auf Kosten hingebungsvoller Fans.

 

Es geht doch immer nur um die Liebe

 

Aasige Schlagerheinis sind leichte Satire-Opfer, wenn sie über Herzschmerz trällern. Doch Michael Thomas wirft sich mit solcher Verve in seine Rampensau-Rolle, dass man flugs seinem Fanclub beitreten will. Er verkauft schlichten Gemütern billige Illusionen mit derart viel Charme und Inbrunst, als gäbe es kein besseres Überlebensmittel. Was für beide Seiten gilt. „Das ist der Grund, warum ich noch da stehe“, betört er ein entzücktes Damenkränzchen an der Bar: „Weil ihr mich lieb habt. Es geht doch immer nur um die Liebe!“

 

Weil dem so ist, geht Regisseur Ulrich Seidl für seine Verhältnisse geradezu wohlwollend mit ihm um. Seidl ist ein Spezialist für Randgestalten, deren Defizite er zunächst eiskalt ausleuchtet, um sie anschließend umso unbarmherziger zu demontieren. Das wäre bei Richie Bravo allzu einfach; also lässt er ihn beim Zusammenprall mit der Realität nicht kollabieren, sondern auf krude Weise seiner Verantwortung gerecht werden.

 

Muffige Altnazi-Obsession

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Paradies: Liebe" über weiblichen Sextourismus in Afrika von Ulrich Seidl

 

und hier eine Besprechung des Films "Paradies: Glaube" – Porträt einer strenggläubigen Katholikin von Ulrich Seidl

 

und hier einen Beitrag über den Film "Ich fühl mich Disco" – originelle, schlager-gesättigte Coming-Out-Komödie von Axel Ranisch.

 

Allerdings in einem typischen Seidl-Setting, in dem Verstörendes mit lakonischer Selbstverständlichkeit auftaucht. Richies Vater (Hans-Michael Rehberg) findet als dementer Greis im Pflegeheim kaum sein Zimmer wieder. Doch wenn er den Mund aufmacht, grölt er NS-Lieder und hebt den Arm zum deutschen Gruß – Seidls Altnazi-Obsession ist ähnlich muffig und überholt wie die Ewiggestrigen selbst.

 

Neuere Erscheinungen sind dagegen die afrikanischen Einwanderer, die Außenaufnahmen von Rimini im Regen und Schnee bevölkern. Gegen die Kälte vermummt, sagen und tun sie nichts. Sie stehen oder sitzen nur herum – und werden immer mehr. Erst mit Tessas Auftauchen zeigen sie menschliche Regungen, bleiben aber passive Kostgänger.

 

Es läge nahe, sie als Statisten in einer Migranten-Parabel zu betrachten: mit Richie Bravo als Allegorie für das alte Europa, das sich mit aufgekratzter Unterhaltung vom Unübersehbarem ablenkt. Aber diese pseudopolitische Deutung wäre so simpel wie die Refrains seiner Lieder.