Jedes Schulkind kennt (oder sollte es zumindest) Heinrich Schliemann (1822-1890) als Entdecker von Troja. Wer sich etwas mehr mit ihm beschäftigt hat, weiß, dass Schliemann dessen Überreste fand, indem er sich an die Ortsbeschreibungen von Homer im Ilias-Epos hielt. Und dass er bei seinen Ausgrabungen einen einzigartigen Goldfund zutage förderte, den er für den „Schatz des Priamos“ hielt, also des letzten trojanischen Königs – was später widerlegt wurde. Soweit das Schulbuchwissen über ihn.
Info
Schliemanns Welten: Sein Leben. Seine Entdeckungen. Sein Mythos
13.05.2022 - 08.01.2023
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
in der James-Simon-Galerie
und im Neuen Museum,
Museuminsel, Bodestraße, Berlin
Katalog 34 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Schiffbruch in der Nordsee
Was ihm keineswegs in die Wiege gelegt worden war: Als mecklenburgischer Pastorensohn wuchs Heinrich Schliemann in ärmlichen Verhältnissen auf. Weil sein Vater das Schulgeld nicht bezahlen konnte, musste er vom Gymnasium auf die Realschule wechseln und danach eine Krämerlehre machen. Da er in Hamburg keine Arbeit fand, wollte er 1841 nach Venezuela auswandern, doch sein Schiff sank vor der niederländischen Nordseeinsel Texel.
Videofeature der Staatlichen Museen zu Berlin mit Direktor Matthias Wemhoff. © SMB
Karriere-Durchbruch dank Russisch
Der gerettete Schiffbrüchige zog nach Amsterdam, fand wohlhabende Gönner und eine Anstellung in einem Handelshaus. Um aufzusteigen, nutzte Schliemann sein phänomenales Sprachtalent: Er lernte fremdsprachige Texte auswendig und schrieb Aufsätze darüber. Auf diese Weise hat er sich im Lauf der Zeit 17 Sprachen angeeignet; zwölf sprach er fließend, in neun hatte er Grundkenntnisse. Mit Russisch gelang ihm sein Karriere-Durchbruch.
1846 ging Schliemann als Vertreter des Amsterdamer Handelshauses nach St. Petersburg, machte sich bald selbstständig und rasch glänzende Geschäfte – vor allem mit Rohstoffen wie Schwefel, Salpeter und dem Färbemittel Indigo. Als sein Bruder Ludwig 1850 als Goldsucher in Kalifornien starb, zog Schliemann kurzerhand dorthin um und verdoppelte binnen nur zwei Jahren mit Goldstaub-Ankauf und Kreditvergabe sein Vermögen. Zurück in Russland, profitierte er vom Krimkrieg, indem er die britische Seeblockade auf dem Landweg umging: So verdiente er als Lieferant der Zaren-Armee bis zu fünf Millionen Euro jährlich.
Windungsreicher Lebensweg + Parcours
Trotz luxuriösem Wohnsitz, seiner Ehe mit einer russischen Anwaltstochter und drei Kindern nagte es an Schliemann: 1863 löste er all seine Unternehmen auf und ging auf eine zweijährige Weltreise – Europa und den Orient hatte er bereits 1858/9 abgegrast. Von Ägypten aus fuhr er nach Indien, China, Japan und beide Amerikas, kehrte nach Frankreich zurück, ließ sich 1866 in Paris nieder und studierte Geisteswissenschaften. Mit zwei Reiseberichten über China und Japan sowie Griechenland (Ithaka, Peleponnes und Troja) promovierte er drei Jahre später an der Universität Rostock.
Soweit nur die wichtigsten Stationen von Schliemanns ruhelosem Erdenwandel. Sein windungsreicher Lebensweg wird im ersten Teil der Ausstellung in der James-Simon-Galerie kongenial in einen verwinkelten Parcours übertragen. Hinter jeder Ecke überraschen große Reproduktionen historischer Kupferstiche und Fotografien, auf Banner gezogen und von Texttafeln informativ, aber bündig erläutert. Da fällt kaum auf, dass nur wenige Exponate tatsächlich aus Schliemanns persönlichem Besitz stammen – dafür stimmt das Zeitkolorit.
Erste Grabungen waren illegal
Im zweiten Teil der Schau im Neuen Museum stehen dagegen Schließmanns archäologische Großtaten im Vordergrund. Mit der Ilias in der Hand lokalisierte er 1868 den Siedlungshügel Hisarlık Tepe in der kleinasiatischen Troas-Landschaft als Standort des einstigen Troja. Ohne Erlaubnis begann er 1870 mit Probegrabungen, erst im Folgejahr erhielt er die Genehmigung. Anfangs ließ er einen tiefen Graben durch den Hügel ziehen, um schnell an ergiebige Schichten zu kommen, und zerstörte dadurch viel. Doch Schliemann lernte rasch: Bei der zweiten und dritten Grabungs-Kampagne bewahrte er sämtliche Funde auf – das erlaubte erstmals, die materielle Alltags-Ausstattung in verschiedenen Epochen zu rekonstruieren.
Den 1873 gehobenen „Schatz des Priamos“ schmuggelte Schliemann außer Landes; später musste er für den Depotfund von rund 8000 Gegenständen eine hohe Entschädigung an das Osmanische Reich zahlen. 1881 schenkte er alle in Troja gefundenen Objekte den Königlichen Museen in Berlin. 1945 wurden die wertvollsten Stücke von der Roten Armee als Beutekunst in die Sowjetunion abtransportiert. Bis heute lagern sie in Moskau. In der Ausstellung werden Kopien gezeigt; der Goldschatz ist allerdings rund 1000 Jahre älter, als Schliemann annahm.
Entdecker der mykenischen Kultur
Wissenschaftlich noch wegweisender waren seine Entdeckungen in Mykene, im Nordosten der Peleponnes-Halbinsel. Hier folgte er Beschreibungen des antiken Autors Pausanias und stieß auf fünf Schachtgräber mit reicher und wertvoller Ausstattung. Von allen goldenen Grabbeigaben mit insgesamt 13 Kilo Gewicht ist die so genannte Totenmaske des Agamemnon am bekanntesten. Bei der Datierung dieses bärtigen, fein ziselierten Antlitzes irrte sich der Hobby-Archäologe ebenfalls: Es entstand rund 400 Jahre vor dem Trojanischen Krieg, den Homer schildert.
Nichtsdestoweniger gebührt Schliemann das Verdienst, als erster die Bedeutung der mykenischen Kultur in der späten Bronzezeit erkannt zu haben. Heute weiß man: Sie war die erste Hochkultur auf dem europäischen Festland – nach der minoischen auf Kreta – und dauerte von etwa 1600 bis 1200 v. Chr.. Zu ihrer Erforschung trug Schliemann mit weiteren Grabungen im weiter südlich gelegenen Tiryns und im mittelgriechischen Orchomenos bei. In Tiryns fand er 1884/5 Ruinen einer mächtigen Burg, in Orchomenos 1880 ein aufwändig verziertes Kuppelgrab, das so genannte Schatzhaus des Minyas.
Palais als Archäologie-Kulisse
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Mykene - Die sagenhafte Welt des Agamemnon" - hervorragende Überblicks-Schau über die erste Hochkultur in Festlands-Europa im Badischen Landesmuseum, Schloss Karlsruhe
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Wegbereiter der Ägyptologie" - eindrucksvolle Würdigung des Archäologie-Pioniers Carl Richard Lepsius (1810-84) im Neuen Museum, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die geretteten Götter aus dem Palast von Tell Halaf" über den Privatgelehrten-Archäologen Max von Oppenheim und von ihm gefundene 3000 Jahre alte syrische Monumente im Pergamonmuseum, Berlin.
Ein weitläufige Raum-Installation am Ende der Ausstellung vermittelt anschaulich, wie es damals bei Schliemanns zugegangen sein dürfte. Bei den legendär opulenten Bällen tanzten die Gäste über ein Fußbodenmosaik, das in 98 Medaillons Funde aus Troja und Mykene zeigte. Friesbänder an der Decke gaben malerisch Szenen aus Schliemanns Forscherleben wider: Entdeckerstolz ging hier mit neureicher Großmannssucht eine bizarre Mischung ein. Sophia Schliemann soll eine charmante Gastgeberin gewesen sein; dagegen war ihr Gatte dafür berüchtigt, Besucher mit ausgedehnten Fachvorträgen zu langweilen.
14 Mal den Erdball umrundet
1890 starb Schliemann, wie er gelebt hatte: auf der Überholspur. Anstatt eine komplizierte Ohrenoperation auszukurieren, reiste er im Winter nach Neapel, um die Ausgrabungen von Pompeji zu besichtigen. Dort brach er zusammen und starb an Weihnachten. Sein Leichnam wurde nach Athen überführt und in seinem Privat-Mausoleum beigesetzt; einem Marmortempel in dorischem Stil. Das Ende eines Rastlosen: Rund 560.000 Kilometer hat er auf seinen zahlreichen Reisen zurückgelegt – das entspricht 14 Umrundungen des Erdballs. Hätte er wie die hyperaktiven Krösusse unserer Tage, etwa Jeff Bezos und Elon Musk, ins All fliegen können, hätte er gewiss keine Sekunde gezögert.