Wenn Filmemacher auf ihr Leben zurückblicken, drehen sie gern einen Film darüber. Oft kommen dabei zauberhafte Auto-Biopics heraus, wie etwa bei Pedro Almodóvar („Leid und Herrlichkeit“, 2019), Olivier Assayas („Die wilde Zeit“, 2013) oder Alejandro Jodorowsky („Endless Poetry“, 2018). Solche Werke haben oft eine Tendenz zur Verhübschung, zum Stationen-Drama und zur lückenlosen Kausalkette: Schaut, da komm’ ich her, hier dreh ich nun und kann nicht anders.
Info
Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten
Regie: Alejandro G. Iñárritu,
159 Min., Mexiko 2022;
mit: Daniel Giménez Cacho, Griselda Siciliani, Ximena Lamadrid, Iker Solano
Weitere Informationen zum Film
Zeit scheint sich in selbst zu krümmen
Wie auf LSD oder anderen psychoaktiven Drogen ist hier nicht alles heitere Nostalgie: Unterdrückte Erinnerungen und Emotionen kommen zum Vorschein, während sich die Zeit sich in sich selbst zurück zu krümmen scheint. Auch das Ego, immerhin wesentliches Antriebsmittel aller Kreativität, stirbt vorübergehend, um dann – im besten Falle: gereift – wiedergeboren zu werden.
Offizieller Filmtrailer
Gesetze von Zeit und Raum sind suspendiert
Dieser Geisteszustand zwischen Diesseits und Jenseits lässt sich chemisch herbeiführen, aber auch durch Meditation und Ekstase. „Bardo“ wird er im tibetischen Totenbuch genannt; er ist aber in ähnlicher Form in vielen anderen Kulturen bekannt, auch im präkolumbischen Amerika. „Bardo“ nennt Iñárritu daher auch seinen Film, denn der Grenzbereich zwischen Realität und Traum gibt diesem dem Werk den Rahmen: „Bardo“ ist ein zweieinhalbstündiger Zwischenzustand, in dem die Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt sind.
Iñárritu kehrte dafür zu einem Stilmittel zurück, dass in seinem Film „Birdman“ noch etwas nervte: Weitwinkelobjektive auch in engen Räumen und bei Großaufnahmen zu verwenden. Das führt zu ständigen Verzerrungen und Verschiebungen an den Bildrändern. Innenräume, Natur- und Stadtlandschaften sind ständig in instabilem Fluss, durch den der immer wieder das Zentrum suchende Protagonist zu schweben scheint.
Zu Anfang in der Wüste abheben
Schon in der Anfangssequenz hebt er in der mexikanischen Wüste dreimal vom Boden ab – wobei man nur seinen Schatten sieht. In dieser meisterhaften Eröffnung steckt schon eine Zentralmetapher fürs Leben an sich und das eines Künstlers im Speziellen. Sie läutet einen Bilderreigen ein, in dem Iñárritu sich nun facettenreich, aber angenehm frei von Egozentrik, selbst spiegelt.
Die folgende Geburtsszene endet damit, dass sich das Kind aus Weltekel in den Uterus der Mutter zurückzieht; das illustriert nicht etwa die Geburt des Autors selbst. Sondern vielmehr das schlimmste Trauma seiner Familie: eine Fehlgeburt, auf die der Film im Folgenden immer wieder zurückkommen wird.
Irrlichternde Odyssee durch Mexiko-Stadt
Dabei folgt die Erzählung Silverio; einem mexikanischen Journalisten und Regisseur, der seit langem in Los Angeles lebt – quasi als Iñárritus Alter Ego. Er ist nach Mexiko-Stadt zurückgekehrt, um eine Auszeichnung für sein Lebenswerk entgegenzunehmen, das er vor kurzem mit einem vieldiskutierten Dokumentarfilm gekrönt hat. Was der Regisseur zum Anlass nimmt, den Preis des Erfolgs und den Verrat an den eigenen Idealen in die Waagschale zu werfen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Revenant" - grandioser Rache-Western mit Leonardo DiCaprio von Alejandro González Iñárritu
und hier eine Besprechung des Films "Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)" – brillante Theater-Satire von Alejandro G. Iñárritu, Oscar für den Besten Film 2015
und hier einen Bericht über den Film "Leid und Herrlichkeit" – berührende Rückschau eines alternden Künstlers von Pedro Almodóvar
und hier einen Beitrag über den Film "Die wilde Zeit – Après mai" – brillante Kollektiv-Biographie der französischen Jugend Anfang der 1970er Jahre von Olivier Assayas
und hier einen Artikel über den Film "Endless Poetry" - surreal-autobiographischer Spielfilm-Bilderreigen von Alejandro Jodorowsky.
Ideenreichtum der Bilder schlägt in Bann
Des Weiteren werden verhandelt: hybride Identität und Heimatbegriff, der Genozid an der indigenen Bevölkerung durch die spanischen Eroberer, die in Mexiko stets ethnisch begründete Klassengesellschaft, das „Verschwinden“ von Frauen und Opfern paramilitärischer Gewalt, der Migrationsstrom nach Norden, die Hassliebe zwischen Mexiko und den USA, zwischen Kunst und Unterhaltung, schließlich der Tod des Autors selbst – und vieles, vieles mehr.
All diese Themen gleiten in Traumlogik ineinander und dröseln sich selbst von hinten wieder auf. Dabei offenbaren die ungeheuer starken Bilder immer wieder ihre eigene Künstlichkeit und schlagen dennoch mit ihrem Ideenreichtum in den Bann: ein Leichenberg auf der verwaisten Plaza de la Constitución, dem auch Zócalo genannten zentralen Platz von Mexiko-Stadt; ein Abstecher ins TV-Studio, während glamouröse Shows geprobt werden; eine lärmende Party im größten Ballsaal der Stadt, ein halluzinatorischer Rückfall in die Zeit des mexikanisch-amerikanischen Kriegs 1846/8.
Achterbahnfahrt mit Wiederholungswunsch
Iñárritu bietet mehr auf, als sich auf einmal verarbeiten lässt – und doch demonstriert der Regisseur immer wieder die Kraft des Kinos, mit seinen Techniken das Komplexe kommensurabel zu machen, das Unsagbare in Bildern zu erzählen. „Bardo“ ist eine Achterbahnfahrt, die Auge, Bauch und Verstand allerhand abverlangt. Doch wenn sich die Eindrücke allmählich setzen und die Realität den Zuschauer wieder eingeholt hat, wächst schnell der Wunsch nach der nächsten Fahrt – unbedingt vor der großen Leinwand!
Ab 16.12. bei Netflix