Luca Guadagnino

Bones and all

Maren (Taylor Russell) und Lee (Timothee Chalamet). Foto: Yannis Drakoulidis / Metro Goldwyn Mayer Pictures, © 2022 Metro-Goldwyn-Mayer Pictures Inc. All Rights Reserved.
(Kinostart: 24.11.) Dieses Liebespaar hat sich zum Fressen gern: Regisseur Luca Guadagnino schildert sein Porträt junger Kannibalen teils als Romantik-Roadmovie, teils als blutrünstigen Horrorstreifen, der dem Publikum unappetitliche Details nicht erspart – ein schwer verdaulicher Genre-Mix.

Wohl bekomm’s: Der italienische Regisseur Luca Guadagnino legt eine wilde und schwer verdauliche Mischung aus Coming-of-Age-Film, romantischem Roadmovie und Kannibalen-Horrorstreifen vor. Einerseits umkreist er voller Empathie die zarten Gefühle zwischen Jung-Star Timothée Chalamet und der großartigen Taylor Russell in der weiblichen Hauptrolle. Dann aber geraten die Szenen, in denen ihr Kannibalismus gezeigt wird, so unangenehm naturalistisch, dass man sie nur mit starken Nerven ertragen kann. Da fragt sich, wofür er diese Metzeleien eigentlich braucht.

 

Info

 

Bones and all 

 

Regie: Luca Guadagnino,

130 Min., USA/ Italien 2022;

mit: Timothée Chalamet, Kendle Coffey, Taylor Russell, Mark Rylance

 

Weitere Informationen zum Film

 

Dabei fängt alles ganz harmlos an: Landschafts-Aquarelle zieren die Wände einer High School in den USA der späten Reagan-Ära. Sie illustrieren die Weite des Mittleren Westens, den die Protagonisten bald rastlos durchstreifen werden. Maren (Taylor Russell) fristet ein Mauerblümchendasein an ihrer neuen Schule. Gern würde sie mehr Zeit mit ihren Freunden verbringen, aber ihr Vater verbietet ihr, zu einer Party zu gehen. Er sperrt sie abends in ihrem ärmlichen Zimmer ein; sogar das Fenster hat er vorsorglich verschraubt. Doch Maren gelingt es trotzdem, sich davonzustehlen.

 

Liebe mit Haut und Haaren

 

Auf der Party findet sie sich kurz darauf mit ihrer Freundin im zärtlichen Geplänkel wieder. Immer näher kommen sie sich, bis Maren einen Zeigefinger des anderen Mädchens in den Mund nimmt und ohne Vorwarnung zubeißt. Blut spritzt, Maren kaut – und die Freundin windet sich, schreiend vor Schmerzen. Von den vorderen Gliedern ihres Fingers ist nur noch der Knochen übrig.

Offizieller Filmtrailer


 

Chronik einer blutgetränkten Kindheit

 

Der Vater reagiert routiniert, als seine Tochter blutverschmiert vor der Tür steht – er gibt ihr zwei Minuten, um ihre Sachen zu packen. Schnell verschwinden sie und ziehen in den nächsten Ort, in dem sich Marens Monstrosität noch verstecken lässt. Aber eines Morgens an ihrem 18. Geburtstag wacht das Mädchen auf und ist allein. Auf dem Tisch liegen etwas Geld, eine Geburtsurkunde mit dem Namen ihrer Mutter, die sie kaum gekannt hat – und eine Tonbandkassette.

 

Auf dieser Kassette hört sie die Begründung ihres Vaters, warum er sie so plötzlich verlassen hat – weil er die furchterregende Andersartigkeit seiner Tochter nicht länger ertragen konnte. Immer wieder wird Maren auf ihrer zunächst einsamen Suche nach den eigenen Wurzeln in diese Chronik ihrer blutgetränkten Kindheit und die Rechtfertigungen des Vaters hineinhören.

 

Ein neuer Gefährte

 

Eine neue Richtung schlägt der Film ein, als Maren in einem Supermarkt Lee (Timothée Chalamet) kennenlernt. Der wirkt ritterlich, ist nur wenig älter als sie und ebenfalls Kannibale. Im Gegensatz zu ihr scheint er sein Leben und seine Veranlagung im Griff zu haben; zumindest hadert er nicht damit. Sie verlieben sich ineinander und führen einige Zeit lang ein Leben auf der Flucht – wie Bonnie und Clyde oder die Vampire aus „Near Dark“ (1987) von Kathryn Bigelow.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Suspiria" – originelle Neuinterpretation des Giallo-Horrorklassikers von Dario Argento durch Luca Guadagnino

 

und hier einen Bericht über den Film "Call me by your Name" - betörend stimmungsvolles Coming-Out-Drama von Luca Guadagnino

 

und hier einen Beitrag über den Film "A Bigger Splash" – luxuriöser Lebemann-Krimi am Urlaubs-Pool von Luca Guadagnino

 

Anders als für Vampire gelten im Kino für Kannibalen weniger feststehende Regeln, was Guadagnino Gelegenheit gibt, für seine „Esser“ einen eigenen Kodex zu entwerfen. Dessen erste Regel besagt, dass man sich nicht gegenseitig verspeist – worauf sich aber nicht alle verständigen können. Höchstes Ziel aller Kannibalen ist es, jemanden mit Haut und Haaren, also „Bones and all“ zu verzehren.

 

Unentschiedene Genre-Mischung

 

Dass sich daraus Bilder ergeben, die den Gepflogenheiten des Autorenfilms und dem Geschmack seines Publikums zuwider sind, liegt auf der Hand. Erinnerungen an Kannibalismus-Szenen in „Der Schweinestall“ (1969) von Pier Paolo Pasolini oder „Trouble Every Day“ (2001) von Claire Denis drängen sich auf – beides Filme, die aufgrund ihrer Grenzüberschreitungen kaum Anklang fanden. Wofür also mischt Regisseur Guadagnino hier diese schwer verdaulichen Zumutungen in seinen Genre-Mix?

 

Sein Film „Call Me by Your Name“ (2017) beobachtete libidinöse Irrungen und Wirrungen junger Männer in der flirrenden italienischen Sommerhitze; sein 2018 veröffentlichtes Remake des Horror-Klassikers „Suspiria“ von Dario Argento konzentrierte sich auf das in Kälte erstarrte Westberlin während des „Deutschen Herbstes“ Ende der 1970er Jahre. „Bones and all“ lässt sich nun als Kommentar zum Erwachsenwerden von white trash in Amerika verstehen. Der könnte sogar stark und böse ausfallen – wenn der Film nicht so unentschieden zwischen Roadmovie-Romantik und Coming-of-Age-Horror hin und her schwanken würde.