David Cronenberg

Crimes of the Future

Caprice (Léa Seydoux), Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Timlin (Kristen Stewart). Foto: © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A.,/ Nikos Nikolopoulos
(Kinostart: 10.11.) Chirurgie ist der neue Sex: Regisseur David Cronenberg, der Meister des Body Horrors, entwirft eine gruslige Welt – Organe wuchern wild, Amputationen verlaufen schmerzfrei und Stühle helfen beim Schlucken. Am schlimmsten ist: Diese Dystopie spielt in realen griechischen Kulissen.

In einer nahen, ungemütlichen Zukunft schlägt die Evolution des menschlichen Körpers seltsame Kapriolen. Zwar ist es gelungen, die Schmerzschwelle allgemein anzuheben. Doch dafür wachsen den Menschen Tumore und scheinbar zweckfreie neue Organe. Es wird also viel operiert in diesen düsteren Tagen, es tut ja wenigstens nicht mehr weh. Die Performance Art hat sich zur Kunst der Stunde entwickelt; ihr Gegenstand ist der eigene Körper. Künstler Klinek zum Beispiel näht sich Augen und Mund zu und tanzt blind und stumm zu Techno-Beats – die offenbar auch in der Zukunft immer noch modern sind.

 

Info

 

Crimes of the Future 

 

Regie: David Cronenberg,

108 Min., Kanada/ Frankreich/ Griechenland/ Großbritannien 2022;

mit: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart

 

Weitere Informationen zum Film

 

Klineks Körper ist mit zwei Dutzend Ohren übersät – aber das ist nur Fake, wie eine Expertin enthüllt, reine Kosmetik: Diese Ohren hören nichts. Ihr Gesprächspartner dagegen, Saul Tenser (Viggo Mortensen), ist gewissermaßen the real deal: Ihm wachsen ständig neue Organe, die er von seiner Partnerin Caprice (Léa Seydoux) öffentlich entfernen lässt. Während Tensers Körper als ihre Leinwand fungiert, ist ihr Malwerkzeug ein computergesteuerter Operationstisch für den Hausgebrauch. Caprice und Tenser wissen längst, was ein Fan nach einem ihrer Auftritte bemerkt: „Chirurgie ist der neue Sex“.

 

Parodie-Plot + lose Dramaturgie

 

Das ist also die Welt, die sich in David Cronenbergs neuem Film „Crimes of the Future“ allmählich entfaltet –wobei er sich mit seinem fast parodistischen Plot nicht besonders viel Mühe gibt, diese sehr spezielle Dystopie dramaturgisch zusammenzuhalten. Vielmehr scheint es dem Regisseur um die Ausleuchtung einer dunklen Welt zu gehen, die ihm bereits vor 20 Jahren eingefallen ist – mit seinem gleichnamigen Film von 1970 jedoch nichts zu tun hat.

Offizieller Filmtrailer


 

Meister des Schleims und der Prothesen

 

Etwas aus der Zeit gefallen erscheinen die Requisiten: Analog-Kameras und Röhrenfernseher sind allgegenwärtig, Smartphones gibt es nicht und Laptop-Computer dienen nur zur Kontrolle der seltsam biologisch aussehenden Hilfsgeräte, auf die die Menschen sich angewiesen fühlen – der Operationstisch, ein perfektes Bett oder ein Stuhl, der beim Schlucken hilft. Wie und warum diese Welt so geworden ist, erfahren wir nicht. Sie erinnert an apokalyptische Science-Fiction-Kurzgeschichten, die sich nicht mit dem großen Ganzen aufhalten, sondern nur von einer einzigen Prämisse ausgehen. Und sie erinnert an frühe Filme von David Cronenberg.

 

Der Kanadier begann seine Karriere mit B-Movies, in denen solche sardonischen SciFi-Plots Anlass für vielfältige Überschreitungen von Körpergrenzen gaben. Cronenberg arbeitete ausgiebig mit Prothesen, Schleim und allem irgendwie organisch Aussehenden – so wurde er zum Leitstern des Subgenres Body Horror. Zu den Highlights seiner Vita gehören ein Remake des Horror-Klassikers „Die Fliege“ (1986), die Adaption des J.-G.-Ballard-Romans „Crash“ (1996), und „eXistenZ“ (1999), sein Beitrag zum Trendthema Virtual Reality.

 

Überschreitungen von Körpergrenzen

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Maps to the Stars" - bitterböse Satire der Filmbranche von David Cronenberg

 

und hier eine Besprechung des Films “Cosmopolis” – brillantes Finanzhai-Psychogramm von David Cronenberg

 

und hier einen Beitrag über den Film "Men – Was dich sucht, wird dich finden" - Psycho-Horror von Alex Garland

 

und hier einen Bericht über den Film "The Innocents" – norwegischer Alltags-Horror-Thriller unter Kindern von Eskil Vogt

 

Ende der 1990er Jahre endete diese Serie; ihr folgte eine Reihe von Filmen, in denen die Konflikte eher auf der psychologischen Ebene ausgetragen wurden. Die Grenzen der Körper blieben dabei zumeist intakt, und fast immer spielte Viggo Mortensen die Hauptrolle. Er ist als Saul Tenser auch in „Crimes of the Future“ wieder Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, in dem sich noch allerlei weitere Gestalten, Subplots und Ideen begegnen, ohne sich recht zusammenzufügen.

 

„Crimes of the Future“ könnte der Pilotfilm einer epischen TV-Serie sein: Am Ende bleiben viele Fragen offen. Und zugleich starke Eindrücke einer ungemütlichen Welt, für die der Regisseur einen prägnanten Look gefunden hat. Er ist offenbar der einzige Regisseur, der bei „Interface“ als erstes an „Nabelschnur“ denkt statt an irgendein Steve-Jobs-Design, und hat diesen ästhetischen Faden nun mit etwas CGI-Hilfe wieder aufgenommen. Wobei die abgewrackte Urbanität, in der sich das Geschehen abspielt, real ist: In Griechenland fand Cronenberg einen rostigen Leuchtturm, auf Grund gelaufene Schiffe, Industrie- und Hafenbrachen sowie heruntergekommene Hotels und Salons vor. So konnte er offenbar auf eigene Studiobauten verzichten.

 

Den eigenen Abfall verdauen

 

Unterschwellig wird der Film von einem trockenen Humor zusammengehalten – Cronenberg leistet sich sogar sprechende Namen: Tenser ist wirklich ziemlich angespannt – tense – und die für seine neuen Organe zuständige Sachbearbeiterin Timlin (Kristen Stewart) ist schüchtern – timid. In einer wunderbaren Szene treibt sie Viggo Mortensen mit schüchterner Zudringlichkeit durch den ganzen Raum vor sich her.

 

Eine neue Droge gibt es in dieser seltsamen Welt auch: Plastik-Riegel. Es wird Zeit, sagt der Oberdealer, dass die Menschheit ihren eigenen Abfall zu verdauen lernt. Dem ist nichts hinzuzufügen.