In einer nahen, ungemütlichen Zukunft schlägt die Evolution des menschlichen Körpers seltsame Kapriolen. Zwar ist es gelungen, die Schmerzschwelle allgemein anzuheben. Doch dafür wachsen den Menschen Tumore und scheinbar zweckfreie neue Organe. Es wird also viel operiert in diesen düsteren Tagen, es tut ja wenigstens nicht mehr weh. Die Performance Art hat sich zur Kunst der Stunde entwickelt; ihr Gegenstand ist der eigene Körper. Künstler Klinek zum Beispiel näht sich Augen und Mund zu und tanzt blind und stumm zu Techno-Beats – die offenbar auch in der Zukunft immer noch modern sind.
Info
Crimes of the Future
Regie: David Cronenberg,
108 Min., Kanada/ Frankreich/ Griechenland/ Großbritannien 2022;
mit: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart
Weitere Informationen zum Film
Parodie-Plot + lose Dramaturgie
Das ist also die Welt, die sich in David Cronenbergs neuem Film „Crimes of the Future“ allmählich entfaltet –wobei er sich mit seinem fast parodistischen Plot nicht besonders viel Mühe gibt, diese sehr spezielle Dystopie dramaturgisch zusammenzuhalten. Vielmehr scheint es dem Regisseur um die Ausleuchtung einer dunklen Welt zu gehen, die ihm bereits vor 20 Jahren eingefallen ist – mit seinem gleichnamigen Film von 1970 jedoch nichts zu tun hat.
Offizieller Filmtrailer
Meister des Schleims und der Prothesen
Etwas aus der Zeit gefallen erscheinen die Requisiten: Analog-Kameras und Röhrenfernseher sind allgegenwärtig, Smartphones gibt es nicht und Laptop-Computer dienen nur zur Kontrolle der seltsam biologisch aussehenden Hilfsgeräte, auf die die Menschen sich angewiesen fühlen – der Operationstisch, ein perfektes Bett oder ein Stuhl, der beim Schlucken hilft. Wie und warum diese Welt so geworden ist, erfahren wir nicht. Sie erinnert an apokalyptische Science-Fiction-Kurzgeschichten, die sich nicht mit dem großen Ganzen aufhalten, sondern nur von einer einzigen Prämisse ausgehen. Und sie erinnert an frühe Filme von David Cronenberg.
Der Kanadier begann seine Karriere mit B-Movies, in denen solche sardonischen SciFi-Plots Anlass für vielfältige Überschreitungen von Körpergrenzen gaben. Cronenberg arbeitete ausgiebig mit Prothesen, Schleim und allem irgendwie organisch Aussehenden – so wurde er zum Leitstern des Subgenres Body Horror. Zu den Highlights seiner Vita gehören ein Remake des Horror-Klassikers „Die Fliege“ (1986), die Adaption des J.-G.-Ballard-Romans „Crash“ (1996), und „eXistenZ“ (1999), sein Beitrag zum Trendthema Virtual Reality.
Überschreitungen von Körpergrenzen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Maps to the Stars" - bitterböse Satire der Filmbranche von David Cronenberg
und hier eine Besprechung des Films “Cosmopolis” – brillantes Finanzhai-Psychogramm von David Cronenberg
und hier einen Beitrag über den Film "Men – Was dich sucht, wird dich finden" - Psycho-Horror von Alex Garland
und hier einen Bericht über den Film "The Innocents" – norwegischer Alltags-Horror-Thriller unter Kindern von Eskil Vogt
„Crimes of the Future“ könnte der Pilotfilm einer epischen TV-Serie sein: Am Ende bleiben viele Fragen offen. Und zugleich starke Eindrücke einer ungemütlichen Welt, für die der Regisseur einen prägnanten Look gefunden hat. Er ist offenbar der einzige Regisseur, der bei „Interface“ als erstes an „Nabelschnur“ denkt statt an irgendein Steve-Jobs-Design, und hat diesen ästhetischen Faden nun mit etwas CGI-Hilfe wieder aufgenommen. Wobei die abgewrackte Urbanität, in der sich das Geschehen abspielt, real ist: In Griechenland fand Cronenberg einen rostigen Leuchtturm, auf Grund gelaufene Schiffe, Industrie- und Hafenbrachen sowie heruntergekommene Hotels und Salons vor. So konnte er offenbar auf eigene Studiobauten verzichten.
Den eigenen Abfall verdauen
Unterschwellig wird der Film von einem trockenen Humor zusammengehalten – Cronenberg leistet sich sogar sprechende Namen: Tenser ist wirklich ziemlich angespannt – tense – und die für seine neuen Organe zuständige Sachbearbeiterin Timlin (Kristen Stewart) ist schüchtern – timid. In einer wunderbaren Szene treibt sie Viggo Mortensen mit schüchterner Zudringlichkeit durch den ganzen Raum vor sich her.
Eine neue Droge gibt es in dieser seltsamen Welt auch: Plastik-Riegel. Es wird Zeit, sagt der Oberdealer, dass die Menschheit ihren eigenen Abfall zu verdauen lernt. Dem ist nichts hinzuzufügen.