Werke des ostdeutschen Autors Clemens Meyer sind schon mehrfach fürs Kino adaptiert worden. Seinen autobiografisch angehauchten Coming-Of-Age-Roman „Als wir träumten“ von 2006 über entwurzelte Jugendliche im Nachwende-Leipzig brachte Regisseur Andreas Dresen 2015 auf die Leinwand. Drei Jahre später verfilmte Thomas Stuber für „In den Gängen“ die gleichnamige Kurzgeschichte aus Meyers Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ (2008). Auch die Vorlage zu Stubers neuem Film stammt von Clemens Meyer.
Info
Die Stillen Trabanten
Regie: Thomas Stuber,
120 Min., Deutschland 2022;
mit: Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Albrecht Schuch, Charly Hübner
Weitere Informationen zum Film
Muslimin raucht mit Imbissbetreiber
Diese erste traurige Anekdote führt nahtlos in den Imbiss von Jens (Albrecht Schuch): Er brät dem arabischen Arbeiter Hamid ein Rindersteak – skeptisch beäugt von Mario; beide Freunde betreiben die Imbissbude gemeinsam. Der Kunde erweist sich als Nachbar, man kommt ins Gespräch. Allerdings weiß Hamid nicht, dass seine zum Islam konvertierte Frau Aisha (Lilith Stangenberg), die früher Jana hieß, heimlich auf dem Etagenbalkon ihres Hauses mit Jens raucht. Wobei sie der erotischen Spannung zwischen beiden zu widerstehen versucht.
Offizieller Filmtrailer
Auslöser unterdrückter Wünsche
Auch Christa (Martina Gedeck), die ihr Geld mit der Reinigung von Zügen verdient, hat in der Bar des Leipziger Hauptbahnhofs eine unverhoffte nächtliche Begegnung mit der Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski); ihre Unterhaltung wird schnell, aber vorsichtig intim – in jeder Hinsicht. Das hätte auch Wachmann Erik (Charly Hübner) gerne: Er lernt auf seinen Rundgängen durch ein Neubauviertel die junge Ukrainerin Marika (Irina Starshenbaum) kennen. Sie löst in ihm sowohl Beschützerinstinkte als auch erotische Phantasien aus.
Fast immer spielt dieser Episodenfilm bei Nacht; also der Zeit der Träume und Bekenntnisse, in denen uneingestandene Bedürfnisse zum Vorschein kommen. Davon erzählt der Film: wenn eine kurze Begegnung oder eine Berührung etwas auslöst, das zuvor lange unterdrückt oder verloren war. Regisseur Stuber schildert diese Augenblicke in ruhigen, epischen Bildern mit großer Zartheit und Empathie für seine widersprüchlichen Figuren. Sie eint die Sehnsucht nach etwas Nähe, die für kurze Zeit auch erfüllt wird – aber ohne sicheres Happyend.
Schlagerstar + Schwarzmeer-Kosaken
Aus der Stille, die im nächtlichen Neubaugebiet meist herrscht, kann Schönes erwachsen. Etwa ein rauschendes Fest, das Erik sich vorstellt, wenn er Marika in die verlassenen Gebäude einer früheren Kaserne der sowjetischen Armee bringt, um ihr Heimweh zu lindern. Dort spielt in Eriks Fantasie Peter Orloff – ein Schlagersänger-Fossil aus den 1970er Jahren – mit den Schwarzmeer-Kosaken zum Tanz auf.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In den Gängen" - poetische Kleine-Leute-Studie mit Franz Rogowski von Thomas Stuber
und hier eine Besprechung des Films "Mittagsstunde" - nordfriesischer Heimatfilm von Lars Jessen mit Charly Hübner
und hier einen Beitrag über den Film "Lieber Thomas" – brillant furioses Biopic über den deutsch-deutschen Dichter Thomas Brasch von Andreas Kleinert mit Albrecht Schuch
und hier einen Bericht über den Film "Als wir träumten" – furioses Porträt der Jugend im Nachwende-Leipzig von Andreas Dresen nach dem Roman von Clemens Meyer.
Intimität unter der Bahnhofsdusche
Dennoch scheut der Film vor großen Gefühlen nicht zurück. Nachdem Aisha den Annäherungsversuchen von Jens ausgewichen ist, gibt sie ihnen in einem Moment nach, als sie neben sich steht. Um ihm am nächsten Tag in der Moschee wieder zu begegnen: Dorthin hatte Hamed ihn eingeladen. Derweil treffen sich Christa und Birgitt regelmäßig in der Bar und werden immer vertrauter miteinander. Als die Friseurin ihr einen neuen Haarschnitt spendiert, kommen sich beide unter der Bahnhofsdusche auch körperlich näher.
Es ist, als schaue man normalen und vielleicht einsamen Menschen ganz nah bei ihrem alltäglichen Dasein zu; dabei sorgt Stubers Inszenierungskunst dafür, dass man für alle Sympathie empfindet. Das ist rührend und berührend zugleich; teilweise zeigen sich die Akteure – allesamt namhafte Schauspieler – von bisher unbekannten, verletzlichen oder verstörenden Seiten. Verurteilt oder vorgeführt wird aber niemand, denn das gehört zum Leben dazu; wie auch die Sehnsucht nach einem Gefährten, also Trabanten im ursprünglichen Sinn.