Nastassja Kinski + Albrecht Schuch

Die Stillen Trabanten

Marika (Irina Starshenbaum) und Wachmann Erik (Charly Hübner) beim Tanzvergnügen. Foto: TM & © 2022 Warner Bros. Entertainment Inc. Alle Rechte vorbehalten.
(Kinostart: 1.12.) Nachts werden Sehnsüchte wach: Im Episodenfilm von Regisseur Thomas Stuber nach Erzählungen von Clemens Meyer erleben gewöhnliche Leute emotional aufwühlende Begegnungen. Alle Akteure haben ihre Ecken und Kanten, und nicht jede Hoffnung erfüllt sich – wie im wirklichen Leben.

Werke des ostdeutschen Autors Clemens Meyer sind schon mehrfach fürs Kino adaptiert worden. Seinen autobiografisch angehauchten Coming-Of-Age-Roman „Als wir träumten“ von 2006 über entwurzelte Jugendliche im Nachwende-Leipzig brachte Regisseur Andreas Dresen 2015 auf die Leinwand. Drei Jahre später verfilmte Thomas Stuber für „In den Gängen“ die gleichnamige Kurzgeschichte aus Meyers Erzählband „Die Nacht, die Lichter“ (2008). Auch die Vorlage zu Stubers neuem Film stammt von Clemens Meyer.

 

Info

 

Die Stillen Trabanten 

 

Regie: Thomas Stuber,

120 Min., Deutschland 2022;

mit: Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Albrecht Schuch, Charly Hübner

 

Weitere Informationen zum Film

 

Während sein Erzählband „Die stillen Trabanten“ von 2017 aus drei separaten Teilen besteht, verwebt Regisseur Stuber die einzelnen Geschichten ganz lose miteinander. Am Anfang findet ein Straßenbau-Trupp im sommerlichen Nirgendwo eine Gruppe von Flüchtlingen, die schreiend und weinend ein lebloses Mädchen betrauern. Es hat Blätter der giftigen Herbstzeitlosen gegessen, erkennt ein Vorarbeiter.

 

Muslimin raucht mit Imbissbetreiber

 

Diese erste traurige Anekdote führt nahtlos in den Imbiss von Jens (Albrecht Schuch): Er brät dem arabischen Arbeiter Hamid ein Rindersteak – skeptisch beäugt von Mario; beide Freunde betreiben die Imbissbude gemeinsam. Der Kunde erweist sich als Nachbar, man kommt ins Gespräch. Allerdings weiß Hamid nicht, dass seine zum Islam konvertierte Frau Aisha (Lilith Stangenberg), die früher Jana hieß, heimlich auf dem Etagenbalkon ihres Hauses mit Jens raucht. Wobei sie der erotischen Spannung zwischen beiden zu widerstehen versucht.

Offizieller Filmtrailer


 

Auslöser unterdrückter Wünsche

 

Auch Christa (Martina Gedeck), die ihr Geld mit der Reinigung von Zügen verdient, hat in der Bar des Leipziger Hauptbahnhofs eine unverhoffte nächtliche Begegnung mit der Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski); ihre Unterhaltung wird schnell, aber vorsichtig intim – in jeder Hinsicht. Das hätte auch Wachmann Erik (Charly Hübner) gerne: Er lernt auf seinen Rundgängen durch ein Neubauviertel die junge Ukrainerin Marika (Irina Starshenbaum) kennen. Sie löst in ihm sowohl Beschützerinstinkte als auch erotische Phantasien aus.

 

Fast immer spielt dieser Episodenfilm bei Nacht; also der Zeit der Träume und Bekenntnisse, in denen uneingestandene Bedürfnisse zum Vorschein kommen. Davon erzählt der Film: wenn eine kurze Begegnung oder eine Berührung etwas auslöst, das zuvor lange unterdrückt oder verloren war. Regisseur Stuber schildert diese Augenblicke in ruhigen, epischen Bildern mit großer Zartheit und Empathie für seine widersprüchlichen Figuren. Sie eint die Sehnsucht nach etwas Nähe, die für kurze Zeit auch erfüllt wird – aber ohne sicheres Happyend.

 

Schlagerstar + Schwarzmeer-Kosaken

 

Aus der Stille, die im nächtlichen Neubaugebiet meist herrscht, kann Schönes erwachsen. Etwa ein rauschendes Fest, das Erik sich vorstellt, wenn er Marika in die verlassenen Gebäude einer früheren Kaserne der sowjetischen Armee bringt, um ihr Heimweh zu lindern. Dort spielt in Eriks Fantasie Peter Orloff – ein Schlagersänger-Fossil aus den 1970er Jahren – mit den Schwarzmeer-Kosaken zum Tanz auf.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "In den Gängen" - poetische Kleine-Leute-Studie mit Franz Rogowski von Thomas Stuber

 

und hier eine Besprechung des Films "Mittagsstunde" - nordfriesischer Heimatfilm von Lars Jessen mit Charly Hübner

 

und hier einen Beitrag über den Film "Lieber Thomas" – brillant furioses Biopic über den deutsch-deutschen Dichter Thomas Brasch von Andreas Kleinert mit Albrecht Schuch

 

und hier einen Bericht über den Film "Als wir träumten" – furioses Porträt der Jugend im Nachwende-Leipzig von Andreas Dresen nach dem Roman von Clemens Meyer.

 

In solchen Szenen schimmert Stubers feiner Humor durch, der bereits den Vorgängerfilm „In den Gängen“ prägte. Ebenso bei den Gesprächen von Jens und Mario über die Frage, welcher Bodenbelag für ihre Imbissbude am besten wäre: Zunächst hatten sie ihn mit rotem Teppich ausgelegt, später muss er wieder weichen.

 

Intimität unter der Bahnhofsdusche

 

Dennoch scheut der Film vor großen Gefühlen nicht zurück. Nachdem Aisha den Annäherungsversuchen von Jens ausgewichen ist, gibt sie ihnen in einem Moment nach, als sie neben sich steht. Um ihm am nächsten Tag in der Moschee wieder zu begegnen: Dorthin hatte Hamed ihn eingeladen. Derweil treffen sich Christa und Birgitt regelmäßig in der Bar und werden immer vertrauter miteinander. Als die Friseurin ihr einen neuen Haarschnitt spendiert, kommen sich beide unter der Bahnhofsdusche auch körperlich näher.

 

Es ist, als schaue man normalen und vielleicht einsamen Menschen ganz nah bei ihrem alltäglichen Dasein zu; dabei sorgt Stubers Inszenierungskunst dafür, dass man für alle Sympathie empfindet. Das ist rührend und berührend zugleich; teilweise zeigen sich die Akteure – allesamt namhafte Schauspieler – von bisher unbekannten, verletzlichen oder verstörenden Seiten. Verurteilt oder vorgeführt wird aber niemand, denn das gehört zum Leben dazu; wie auch die Sehnsucht nach einem Gefährten, also Trabanten im ursprünglichen Sinn.