Michelangelo Frammartino

Il Buco – Ein Höhlengleichnis

Einstieg in den Abisso del Bifurto, die tiefste Höhle Italiens. Foto: © 2022 Film Kino Text
(Kinostart: 10.11.) Jeder Mensch ist ein Abgrund – aber wie menschlich ist dieser Abgrund? 1961 erkunden Forscher die tiefste Höhle Süditaliens. Das stellt Regisseur Michelangelo Frammartino semidokumentarisch nach; mit unvergesslichen Bildern eines waghalsigen Abstiegs ins Unbekannte.

Das Auskosten der Langsamkeit: In 18 Jahren hat Michelangelo Frammartino nur drei Spielfilme gedreht – mit ruhigen, wortlosen Einstellungen. Und alle in derselben Gegend: einem gebirgigen und kaum bevölkerten Landstrich in Kalabrien, Italiens armer Stiefelspitze. „Il dono“ („Die Gabe“, 2003) verfolgte den Alltag in einem überalterten Dorf, in dem die Zeit still zu stehen scheint. „Le quattro volte“ („Vier Leben“, 2010) behandelte Werden und Vergehen: ein alter Ziegenhirte stirbt, ein Zicklein wird geboren, ein Baum wird gefällt und im Dorf aufgestellt – später verarbeiten ihn Köhler zu Holzkohle.

 

Info

 

Il Buco – Ein Höhlengleichnis

 

Regie: Michelangelo Frammartino,

93 Min., Italien/ Frankreich/ Deutschland 2021;

mit: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola Lanza

 

Weitere Informationen zum Film

 

In „Il Buco“ geht es um vertikale Bewegungen. Der Film beginnt mit einer alten TV-Reportage in Schwarzweiß: Moderator und Ingenieur fahren im Außenlift die Glasfassade des Pirelli-Turms in Mailand empor. Der 127 Meter hohe Wolkenkratzer, 1960 fertiggestellt, symbolisierte Italiens Wirtschaftswunder in den 1950/60er Jahren. Diese Aufwärtsbewegung erfasste buchstäblich das ganze Land: Zwischen 1955 und 1971 wanderten rund neun Millionen Süditaliener auf der Suche nach einem besseren Leben in den prosperierenden Norden ab – darunter auch Frammartinos Eltern.

 

TV ist spannender als Forscher

 

Zur gleichen Zeit reist eine Gruppe junger Höhlenforscher aus dem Piemont in umgekehrter Richtung. Sie durchqueren ganz Italien, um im Pollino, einem Gebirgszug zwischen Kalabrien und Basilikata, den „Abisso del Bifurto“ zu erkunden; diese Höhle war bis dato völlig unerforscht. Ihr Eintreffen erregt im Nachbarort nur wenig Aufsehen; für die Dörfler ist das allabendliche public viewing vor einem Fernseher neben der lokalen Bar aufregender.

Offizieller Filmtrailer


 

Sich ins Unbekannte abseilen

 

Auf einer Alm zwischen bewaldeten Gipfeln schlagen die Forscher zwischen frei grasenden Kühen und Schafen ihr Lager auf: ein Halbrund von Militärzelten, in denen sie wochenlang hausen. Beobachtet nur von einem greisen Hirten, der tagsüber am Hang sitzt und sie genauso im Blick hat wie seine Herde. Wobei er selbst quasi unsichtbar bleibt – bemerkbar nur an seinen Lockrufen, mit denen er seine Tiere steuert.

 

Nach allerlei Vorbereitungen wagen sich die Pioniere erstmals in die Tiefe – und die Kamera mit ihnen. Dieses re-enactment wirkt genauso tollkühn wie die reale Expedition 60 Jahre zuvor. Regisseur Frammartino hat dafür heutige Höhlenforscher rekrutiert und mit den technischen Mitteln von damals ausgestattet: In derber Schutzkleidung seilen sie sich ins Unbekannte ab. Die Grubenlampen an ihren Bauhelmen leuchten stets nur schmale Winkel aus – alles Übrige verschwindet in undurchdringlicher Düsternis.

 

See-Überquerung ins Todesreich

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Vier Leben" – brillante Milieustudie über traditionelles Landleben in Kalabrien von Michelangelo Frammartino

 

und hier eine Besprechung des Films "Alcarràs – Die letzte Ernte" - Porträt einer spanischen Obstbauern-Familie, die ihre Existenzgrundlage verliert, von Carla Simón; prämiert mit dem Goldenen Bären 2022 

 

und hier einen Bericht über den Film "River" - Doku über Landschafts-Veränderung durch Flüsse von Jennifer Peedom + Joseph Nizeti 

 

und hier einen Beitrag über den Film "Das Haus auf Korsika" - gelungenes Generationen-Drama von Pierre Duculot über naturnahes Leben im Inselinneren.

 

Was die Akteure erwartet, hat mit den adrett aufbereiteten Schauwerten touristischer Tropfsteinhöhlen wenig zu tun: ein wüstes Labyrinth aus Hohlräumen, Felsnasen, -brocken und -kanten. Mal bieten glitschig glatte Wände kaum Halt; mal rückt das Gestein so eng zusammen, dass die Forscher kriechen müssen. Am spektakulärsten wirkt eine Szene, in der sie einen kleinen See auf einem Faltboot überqueren: Als sie am jenseitigen Ufer anlanden und ihre Helmlampen hinter der nächsten Wegbiegung verschwinden, scheint es, als seien sie endgültig ins Totenreich hinabgestiegen.

 

Es sind jedoch nicht sie, sondern der greise Schäfer, der dorthin gelangt: Seine Mitbewohner in einer Berghütte finden ihn leblos am Hang. Ärztliche Kunst versagt ebenso wie Gebete. Dieser Gegensatz – archaisches Leben erlischt, während moderne Wissenschaft eine zuvor mythische Sphäre erhellt – erscheint ein wenig plakativ. Anders als die Episoden in „Vier Leben“ fügen sich die beiden Handlungsstränge nicht zu einem geschlossenen Ganzen.

 

Der Weg im Loch ist das Ziel

 

Doch das macht nichts, sondern entspricht eher dem historischen Sachverhalt. Die Höhlenforscher sind Eindringlinge in eine ihnen fremde Welt, sowohl über als auch unter der Erdoberfläche. Am Ende haben sie die Höhle bis zur sagenhaften Tiefe von 683 Metern vermessen und kartiert; ein Triumph der Grundlagenforschung ohne praktischen Nutzen.

 

Dafür ist der deutsche Titel „Ein Höhlengleichnis“, der auf Platons Philosophie anspielt, etwas zu prätentiös – „Il Buco“ bedeutet schlicht: „Das Loch“. Was passt: Wer sieht, wie sich schwach beleuchtete Schemen von Dunkelheit zu Dunkelheit winden, begleitet von schaurigen Unterwelt-Geräuschen, wird diese Bilder nicht vergessen. Der Weg ist das Ziel.