Charlotte Gainsbourg

Menschliche Dinge

Claire (Charlotte Gainsbourg) ist schwer getroffen von den Vorwürfen gegen ihren Sohn Alexandre. Foto: Copyright Jérôme Prébois, © 2021 Curiosa Films
(Kinostart: 3.11.) Hat er oder hat er nicht? Nach einer Partynacht wird ein Student von seiner Stiefschwester der Vergewaltigung bezichtigt. Der vielschichtige Justiz-Thriller von Regisseur Yvan Attal gleicht einem Familienprojekt: Die Hauptrolle spielt sein Sohn, Film-Mutter Charlotte Gainsbourg ist seine Partnerin.

Zunächst lässt sich die Stippvisite des 22-jährigen Stanford-Studenten Alexandre Farel (Ben Attal) in seiner Heimat etwas holprig an. Seine Ex-Freundin will trotz seines Flehens nicht wieder mit ihm anbändeln. Auch seine Eltern, die sich kürzlich erst getrennt haben, finden kaum Zeit für ihn.

 

Info

 

Menschliche Dinge

 

Regie: Yvan Attal,

138 Min., Frankreich 2021;

mit: Charlotte Gainsbourg, Ben Attal, Mathieu Kassovitz, Pierre Arditi

 

Weitere Informationen zum Film

 

Beide stehen im Licht der Pariser Öffentlichkeit. Seine Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg), eine feministische Essayistin, bereitet sich auf ein TV-Interview vor, in dem ein heikles Thema angesprochen wird: ob sexuelle Gewalt überproportional von Männern mit Migrationshintergrund ausgeht. Sein Vater Jean (Pierre Arditi), ein Journalist, ist ebenfalls sehr erfolgreich; am nächsten Tag soll er in den Orden der Ehrenlegion aufgenommen werden – das ist die höchste staatliche Auszeichnung in Frankreich. Dieser Festakt ist eine von zwei Veranstaltungen, für die Alexandre angereist ist.

 

Nach Schulfreunde-Party in U-Haft

 

Der zweite Termin verspricht, vergnüglicher zu werden: eine Party mit alten Schulfreunden. Vorher finden Mutter und Sohn doch noch zusammen: Claire stellt Alexandre beim Abendessen ihrem neuen Partner Adam (Mathieu Kassovitz) vor. In gelöster Stimmung hält es die frisch gebackene Patchwork-Familie für eine gute Idee, dass Alexandre auch Adams 17-jährige Tochter Mila mit zur Party nimmt, um sie besser kennen zu lernen. Am nächsten Morgen wird Alexandre von der Polizei wach geklingelt: Mila hat ihn wegen Vergewaltigung angezeigt. Er landet in Untersuchungshaft.

Offizieller Filmtrailer


 

Entscheidende Minuten bleiben ausgespart

 

Regisseur Yves Attal beleuchtet die Geschehnisse von verschiedenen Seiten: Im ersten Kapitel „Lui – Er“ geht es um Alexandres Perspektive, im zweiten „Elle – Sie“ um Milas. Allerdings bleibt in beiden Teilen ausgespart, was auf der Party tatsächlich passiert ist. Das steht im Mittelpunkt des dritten Teils dieses vielschichtigen, nuancierten Thrillers: Zwei Jahre später wird der Fall vor Gericht verhandelt. Nun kommt der Abend zur Sprache, der nicht nur das Leben der Hauptfiguren, sondern auch ihrer Familien nachhaltig erschüttert hat.

 

Die Verhandlung vor Geschworenen wird detailliert in Szene gesetzt. Neben Zeugenbefragungen und Kreuzverhören sieht man auch Rückblenden auf die Partynacht. Doch auch in diesen Szenen bleiben die entscheidenden Minuten der Phantasie des Zuschauers überlassen. Stattdessen lässt das Drehbuch viel Raum für eine Behandlung der Frage, ob der Umstand, dass Mila nicht explizit „nein“ gesagt oder sich gewehrt hat, für Alexandre als Einvernehmen zu deuten war.

 

Uneindeutige Schuldfrage

 

Als Kern dieses komplexen Films schält sich peu à peu die Frage heraus: Wann ist ein sexueller Kontakt justiziabel – und wann vielleicht moralisch fragwürdig, aber keine Straftat? Die Perspektivwechsel, die Regisseur Yves Attal einbaut, sind angelehnt an Akira Kurosawas Klassiker „Rashomon – Das Lustwäldchen“ (1950), einen Meilenstein der Kinogeschichte. Unlängst hat dieses Verfahren Ridley Scott in seinem Mittelalter-Vergewaltigungsdrama „The Last Duel“ (2021) wieder aufgegriffen.

 

Das von Attal mitverfasste Drehbuch beruht auf einem gleichnamigen Roman von Karine Tiul, der 2019 erschien. Er ist wiederum inspiriert vom so genannten „Fall Stanford“: 2016 erregte Aufsehen, dass der Täter, ein Student der Elite-Uni, zu einer relativ milden Strafe verurteilt und nach nur drei Monaten aus der Haft entlassen wurde. Anders als im realen Fall, in dem eine bewusstlose Frau offenkundig vergewaltigt wurde, erscheint die Schuldfrage in der französischen Adaption weniger eindeutig.

 

Alphatier-Vater als Unsympath

 

Dabei leuchtet Regisseur Attal die Vorgeschichte und den sozialen Hintergrund von Opfer und Täter sorgfältig aus. Milas jüdisch-orthodoxe Mutter hat ein konservatives Weltbild, so dass ihre Tochter sexuelle Erfahrungen zuhause verheimlichen musste. Alexandre ist dagegen ein weltgewandter junger Mann aus besten Kreisen, der entsprechende Privilegien genießt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die brillante Mademoiselle Neila" - vielschichtige französische Rhetorik-Komödie von Yvan Attal

 

und hier eine Besprechung des Films "The Last Duel" – aufwändiges Mittelalter-Spektakel über Vergewaltigungs-Vorwurf von Ridley Scott mit Matt Damon + Adam Driver

 

und hier einen Beitrag über den Film "Nina Wu" – stilsicher inszenierter #MeToo-Psychothriller aus Taiwan von Midi Z

 

und hier einen Bericht über den Film "Elle" - raffiniertes Vergewaltigungs-Rachedrama von Paul Verhoeven mit Isabelle Huppert.

 

Sein Vater antwortet mit alphatierhaftem Machtbewusstsein, das ihn zum eigentlichen Unsympathen dieses etwas trockenen, aber doch fesselnden Dramas werden lässt, auf die Vergewaltigungs-Vorwürfe gegen Alexandre: So etwas habe sein attraktiver Sohn doch nicht nötig. Später wird er – in Anlehnung an den echten „Fall Stanford“ – von „20 Minuten Aufregung“ sprechen, die Alexandres Zukunft zu ruinieren drohten – was im #MeToo-Zeitalter einen medialen Shitstorm nach sich zieht.

 

Spannung hält trotz Ambivalenzen

 

Dieser Film über das Beziehungsgefüge zwischen zwei Familien entstand selbst quasi als Familienprojekt: Charlotte Gainsbourg als Mutter ist seit vielen Jahren mit Yvan Attal liiert, ihr gemeinsamer Sohn Ben verkörpert als Hauptdarsteller Alexandre. Dabei gelingt Gainsbourg eine bemerkenswert authentische Performance als Frau, die zwischen ihren Muttergefühlen und ihrer feministischen Weltsicht zerrissen ist.

 

Trotz gelegentlich hakender Dramaturgie gelingt es dem Film, das emotionale Zentrum der Geschichte nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei darf der Zuschauer einer Achterbahnfahrt der Gefühle folgen und angesichts immer neuer Enthüllungen öfter die Seiten wechseln. Bei all diesen Ambivalenzen reißt der Spannungsbogen nicht ab – auch wenn der dritte, etwas nüchterne Teil einige Längen aufweist.