Potsdam

Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne

Max Ernst: Die Einkleidung der Braut, 1940 , Öl auf Leinwand , 129,6 x 96,3 cm , Peggy Guggenheim Collection, Venedig. © VG Bild-Kunst, Bonn 2022. Photo: David Heald; Photoquelle: Museum Barberini
Kunst-Revolution mit Okkultismus und Alchemie: Beides schätzten die Gefolgsleute von André Breton als Motiv-Fundus. Die Themen-Schau im Museum Barberini präsentiert etliche kaum bekannte Meisterwerke, manövriert aber die surrealistische Bewegung zu sehr in die Esoterik-Ecke.

Fiat lux in arcanum: Diese Ausstellung beleuchtet eine Kunstströmung, die trotz ihres populären Namens hierzulande wenig geläufig ist. Den Begriff Surrealismus kennt jeder, doch in deutschen Museen hängen nur wenige genuin surrealistische Werke. Was auch daran liegen dürfte, dass unter den Leitfiguren nur ein Deutscher war: Max Ernst – und der zog bereits 1922 nach Paris, später in die USA.

 

Info

 

Surrealismus und Magie –
Verzauberte Moderne

 

22.10.2022 - 19.01.2023

täglich außer dienstags

10 bis 19 Uhr

im Museum Barberini, Am alten Markt, Potsdam

 

Katalog 34 €

 

Weitere Informationen

 

Die 1924 von André Breton begründete und mit straffer Hand geführte Bewegung war anfangs stark französisch geprägt; wohl deshalb konnte sie in Deutschland nie so recht Wurzeln schlagen. Umso verdienstvoller ist diese Überblicksschau, die das Museum Barberini in Kooperation mit der Peggy Guggenheim Collection in Venedig ausrichtet: Sie hat einige Hauptwerke zu den rund 90 Exponaten von mehr als 20 Künstlern beigesteuert.

 

Eingeschränkte Perspektive

 

Allerdings fehlt in Potsdam auch ein Dutzend bedeutender Arbeiten, die nur bei der ersten Station von April bis September in Venedig zu sehen waren – schade! Zudem betrachten die Kuratoren diese vielfältig schillernde Strömung unter einem bestimmten Blickwinkel: ihrer Neigung zu Magie, Alchemie und Okkultismus. Diese eingeschränkte Perspektive lässt manches anschaulich hervortreten, blendet aber andere Aspekte völlig aus.

Offizieller Trailer zur Ausstellung; © Museum Barberini


 

Ablehnung des Übernatürlichen

 

Wie einige Avantgarden der Zwischenkriegszeit entstand auch der Surrealismus aus dem Entsetzen über die Gräuel des Ersten Weltkriegs: Moderne Technik und Zivilisation wirkten diskreditiert. Dagegen wollte Breton die Gegensätze von Realität und Traum, Vernunft und Irrationalem aufheben und in einer „Über-Wirklichkeit“ („sur-réalité“) versöhnen. Um derlei künstlerisch fruchtbar zu machen, erschienen ungeplant-automatische Verfahren geeignet – oder auch der Rückgriff auf Magie und Mythologie.

 

Nicht im Sinne von Wahrsagerei und spiritistischen Séancen: Breton lehnte jede Idee des Übernatürlichen kategorisch ab. Sondern als Repertoire von Praktiken, um des Unbewussten und Verdrängten habhaft zu werden – ähnlich der Psychoanalyse, die sich dazu der freien Assoziation und scheinbar zielloser Gespräche bedient.

 

Alles hängt mit allem zusammen

 

Solche Netze von Korrespondenzen stellen auch Okkultismus und Alchemie bereit. Beide gehen von der universellen Präsenz verborgener Kräfte aus, die Mikro- und Makrokosmos durchdringen: Sie verbinden alles mit allem – etwa Lebewesen mit Himmelkörpern, wie es die Astrologie behauptet. Erkennbar sind diese Verbindungen mittels Symbolen und Analogien; wer sie studiert, gelangt stufenweise zu höherer Einsicht. Die Alchemie wendet dieses Modell auf die Materie an: Aus dem Urstoff wird durch vielfache Destillation der Stein der Weisen gewonnen, symbolisiert in der „Königlichen Hochzeit“ als Vereinigung der Gegensätze – von Feuer und Wasser, Sonne und Mond oder Mann und Frau.

 

Verweise auf diese Vorstellungswelt finden sich in vielen surrealistischen Werken. Fast schon plakativ im Bildtitel „Chemische Hochzeit“ – das von Max Ernst 1948 porträtierte Paar lässt mit geometrischen Gliedern und Insektenaugen allerdings kaum an die Vereinigung von Gegensätzen denken. Ebenso wenig „Die Liebenden“ (1947) von Victor Brauner: Ein mit okkulten Symbolen gespicktes Paar – er ein hagerer Jüngling, sie ein Vogel im Fantasie-Ornat – scheint einander eher zu bedrohen als sich zu verbinden.

 

Faust mit eingesetzten Glasaugen

 

Diskreter und zugleich beeindruckender sind die Anspielungen auf den phänomenalen Großformaten von Enrico Donati, denen die Schau zurecht ein eigenes Kabinett widmet. Im Diptychon „Turm des Alchemisten“ von 1947 erstarren technoide Fantasie-Konstruktionen in eisigem Blaugrün, während nebenan ein „Elektrisches Auge“ den Betrachter aus einem feuerrot-stahlblauen Gehäuse heraus anstarrt.

 

Donati kam aber auch ohne Okkultes aus: „Dämmerung und die Stadt“ entfaltet eine giftig schillernde Tiefsee-Unterwasserwelt. Und in seiner Bronze-Skulptur von 1946 wird eine geballte „Faust“ nur durch zwei eingesetzte Glasaugen zum bizarr dreinblickenden Mutanten-Kopf. Dagegen kommt der mannshohe „Große Unsichtbare“ (1947) von Jacques Hérold, obwohl mit okkulten Zeichen übersät, wie ein plumper Pappkamerad daher.

 

Zwischen Tropfsteinhöhle + Chemieunfall

 

Ohnehin wirken meist diejenigen Beiträge origineller, die sich dem Magie-Alchemie-Deutungsschema nicht fügen. Etwa die furiosen Wirbel mit aberwitzigen Insekten-Analogien, die der Spanier Óscar Domínguez 1938/40 über Leinwände jagen ließ. Oder die halluzinogen vibrierenden Tableaus des Chilenen Roberto Matta, die zwischen Tropfsteinhöhle und Chemieunfall changieren – mit solchen „psychologischen Morphologien“ reagierte er auf den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

 

Dass die „Hochzeitsfeier“ (1947) des Kubaners Wilfredo Lam sich auf die „Königliche Hochzeit“ bezieht, ist wohl nur Initiierten verständlich. Für Uneingeweihte sieht die wandfüllende Grisaille eher nach einer Folterszene im Comicstil aus: Zwischen zwei Mischwesen hängt eine Frau kopfüber in einer Art Stachel-Corsage. Das ambivalente Frauenbild des Surrealismus behandelt die Ausstellung in einer eigenen Abteilung.

 

Augenpaar mustert kopflose Nackte

 

Als Repräsentantinnen von Sinnlichkeit und Irrationalem gepriesen, wurden Frauen zugleich häufig als stereotype Nixen und Nymphen zum Vernaschen dargestellt – etwa auf den Allegorien des Belgiers Paul Delvaux. Solchen Klischees hielt Dorothea Tanning 1936 den voyeuristischen Spiegel entgegen: In „Spannung“ hält eine kopflose Nackte einen Stab mit einem Augenpaar hoch, das sie mustert.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Fantastische Frauen - Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" mit Werken von Leonora Carrington, Dorothea Tanning, Leonor Fini + Kay Sage in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Move little hands… „Move!" – herrlich versponnene Werkschau des tschechischen Surrealisten-Paars Jan und Eva Švankmajer im Lipsiusbau, Dresden

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Magritte - Der Verrat der Bilder" – große Werkschau des belgischen Surrealisten in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt/ Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung  "Kunst und Alchemie – Das Geheimnis der Verwandlung" über u.a. Einfluss der Alchemie auf den Surrealismus im Museum Kunstpalast, Düsseldorf.

 

Die Argentinierin Leonor Fini drehte die üblichen Geschlechterrollen kurzerhand um: Auf ihren symbolistisch anmutenden Miniaturen liegen unbekleidete Jünglinge wehrlos schlummernd vor Sphingen oder Hexen, die ihren Schlaf bewachen – und Finis Züge tragen. Ähnliche Anleihen beim abendländischen Mythen-Fundus machten die Britin Leonora Carrington und die Spanierin Remedios Varo, die beide während des Zweiten Weltkriegs nach Mexiko emigriert waren.

 

Hexentanz von Hui-Buh-Gestalten

 

Ihre farbenfrohen und detailverliebten Gemälde wimmeln von Figuren, die Märchen und Legenden entsprungen sein könnten. Oder deren Darstellungen bei Alten Meistern: Carringtons Gemälde „Vergnügungen des Dagobert“ (1945) gleicht einer surrealistischen Travestie von Hieronymus Bosch. Woran deutlich wird, dass die Begeisterung dieser Bewegung für allerlei Abseitiges in beliebigem Edelkitsch à la Fantasy-Dekor zu versanden drohte.

 

Die gruslige Variante ist bei Kurt Seligmann zu besichtigen, dem unverständlicherweise der größte Saal mit 19 Werken gewidmet ist. Er mag mit „Das Weltreich der Magie“ 1948 ein Standardwerk für Okkultismus-Freunde verfasst haben – seine Bilder spielen ermüdend gleichförmig ein und dasselbe Thema durch: eine Art Hexentanz von Hui-Buh-Geistergestalten.

 

Rationale Marx- + Freud-Jünger

 

Diese Schauer-Parade tut dem Surrealismus, wie Breton und seine Mitstreiter ihn auffassten, unrecht: Es ging ihnen nicht um die Aufwertung von Hirngespinsten. Stattdessen wollten sie mit unkonventionellen Methoden das gesellschaftliche Bewusstsein verändern; sie verstanden sich als Revolutionäre, die Einsichten von Marx und Freud kombinierten.

 

Dieses Anliegen war sehr rational – dass sie damit scheiterten, haben sie mit vielen radikalen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gemeinsam. Doch im Unterschied zu jenen brachten sie zahllose Bildideen hervor, die ihre verstörende Faszination bis heute nicht verloren haben – auch ohne Beschwörung dunkler Mächte.