Hans-Christian Schmid

Wir sind dann wohl die Angehörigen

Vera (Yorck Dippe), Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) und Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) erhalten einen Brief der Entführer. Foto: Pandora Film, 23/5
(Kinostart: 3.11.) Realismus statt Spektakel: Die Reemtsma-Entführung 1996, einen der spektakulärsten Kriminalfälle der bundesdeutschen Geschichte, schildert Regisseur Hans-Christian Schmid aus der Perspektive seines 13-jährigen Sohnes – als Coming-of-Age-Geschichte besonderer Art.

„Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen. Jan Philipp ist entführt worden.“ Mit diesen Worten weckt Ann Kathrin Scheerer (Adina Vetter) eines Morgens ihren 13-jährigen Sohn Johann (Claude Heinrich). An diesem Tag fällt für ihn nicht nur die Schule aus – mit der blanken Angst dringt auch ein Gefühl in seine Welt ein, das er bisher nicht kannte. Zudem stehen am Vormittag zwei Polizisten in Zivil vor der Tür; sie sind Angehörigenbetreuer mit den Decknamen Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs). Als neue Mitbewohner werden sie Johann und seiner Mutter wochenlang nicht mehr von der Seite weichen.

 

Info

 

Wir sind dann wohl die Angehörigen 

 

Regie: Hans-Christian Schmid,

118 Min., Deutschland 2022;

mit: Claude Heinrich, Adina Vetter, Justus von Dohnányi

 

Website zum Film

 

Die Entführung Jan Philipp Reemtsmas im Jahr 1996 ist einer der spektakulärsten Kriminalfälle in der Geschichte der Bundesrepublik: 33 Tage lang wurde der Tabakfirmen-Erbe, Mäzen, Literatur- und Sozialwissenschaftler von vier Entführern festgehalten und – nach mehreren gescheiterten Übergabeversuchen – schließlich gegen Zahlung eines hohen Lösegelds freigelassen. 2018 veröffentlichte sein Sohn Johann Scheerer seine damaligen Erlebnisse im Buch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“.

 

True Crime und Coming of Age

 

Aus seiner Perspektive eines Heranwachsenden hat nun Regisseur Hans-Christian Schmid den Stoff verfilmt. Er folgt nicht den Konventionen des True-Crime-Genres, das das Verbrechen in den Fokus genommen hätte: mit nervenaufreibenden Entführungs- und Geldübergabe-Szenen und angespannt routinierter Polizeiarbeit. Schmid geht es weniger um eine spektakuläre Darstellung der außergewöhnlichen Situation – er sucht vielmehr nach Anknüpfungspunkten, die ihm erlauben, das Sujet überzeugend in seine Serie von Coming-of-Age-Filmerzählungen einzureihen.

Offizieller Filmtrailer


 

Punkrock gegen Humanismus

 

Dass pubertierende Jugendliche und ihre Eltern bisweilen auf verschiedenen Planeten leben, ist eine Binsenweisheit. Schmid gelingt es in seinem streng chronologisch erzählten Film, sie in wenigen Situationen einzufangen, ohne dabei seinen beobachtenden Realismus ins Didaktische abgleiten zu lassen.

 

Am Tag vor der Entführung probt Johann mit seiner Punk-Schülerband. Das ist seine Welt, hier hat er mit seinen Freunden große Träume. Als er nach Hause kommt, muss er mit seinem Vater Jan Philipp Latein lernen. Ganz Büchermensch mit humanistischer Bildung, ist dieser erschüttert vom Unverständnis seines Sohnes – und vor allem von dessen Desinteresse am Inhalt des Textes, den er übersetzen muss.

 

Vergil als Lektüre zu Ostern

 

Um ihn dafür zu begeistern, schwärmt der Vater ihm vor, wieviel Leben und aufrührerischen Eigensinn der Autor Vergil in seinen Dichtungen eingefangen habe – und empfiehlt ihm dessen „Aeneis“ als lebensbereichernde Lektüre über Ostern. Da kann Johann nur ungläubig den Kopf schütteln. Das vom Philanthropen-Vater überreichte Buch wirft er in den Müll – um es dort wenig später, als dessen Gefangenschaft andauert, vergebens wieder zu suchen. Ein Band, das sie hätte verbinden können, scheint zerrissen, was dem Jungen schlaflose Nächte bereitet.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films  "Was bleibt" - Drama um eine Familienaufstellung von Hans-Christian Schmid

 

und hier eine Besprechung des Films "Alles Geld der Welt" – Historien-Thriller über die Entführung des Milliardärs-Erben John Paul Getty III von Ridley Scott

 

und hier einen Beitrag über den Film "El Clan" – packender Kidnapping-Thriller aus Argentinien von Pablo Trapero

 

und hier einen Bericht über den Film "Berlin Syndrom" - fesselnder Psycho-Thriller über Kidnapper von Cate Shortland

 

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“ beschränkt sich jedoch nicht auf Johanns Perspektive; der Film zeigt aus der Sicht seiner Mutter auch die Arbeit der etwa zweihundert Polizisten, die zur Befreiung Reemtsmas – und vor allem zur Verfolgung der Täter – Tag und Nacht im Einsatz sind. Das wird zumindest Einsatzleiter Rainer Osthoff, der mit dem spröden Fabian Hinrichs perfekt besetzt ist, nicht müde zu erklären. Allerdings häufen sich bald Fehler; der Staatsapparat, der so selbstverständlich wie dominant in Haus und Leben von Johann und Ann Kathrin eingedrungen ist, scheint die Lösegeldübergabe und damit die Freilassung des Vaters eher zu behindern als zu erleichtern.

 

Ostereier im Garten, Staatsapparat im Haus

 

Als Gegengewicht zu seinen Maßnahmen holt sich Ann Kathrin Verstärkung ins Haus: Johann Schwenn (Justus von Dohnányi), den Rechtsanwalt der Familie, und Christian Schneider (Hans Löw), einen engen Freund. Während die Angehörigenbetreuer von einer Panne zur nächsten navigieren und auch der narzisstische Schwenn in seiner eigens angelieferten Garderobe nicht immer eine gute Figur macht, versuchen Christian und Ann Kathrin für Johann einen Rest Normalität zu bewahren: So werden zu Ostern im Garten Eier gesucht, und er bekommt die Gitarre, die er sich seit langem wünscht. Doch einige der Beziehungen unter den Akteuren halten der Belastung durch das Verbrechen nicht stand.

 

Zuletzt erzählte Schmid in „Das Verschwinden“ (2017) von der Suche einer Mutter nach ihrer vermissten Tochter im deutsch-tschechischen Grenzgebiet – eine mit ihrer akribischen Milieu-Darstellung im deutschen Fernsehen einzigartige TV-Krimiserie. „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ führt nun vor, was auch deutsches Gegenwarts-Kino, das oft als langweilig gescholten wird, sehenswert machen kann: genaues Beobachten und Verdichten – Realismus statt Spektakel.