Kad Merad

Ein Triumph

Étienne (Kad Merad) nimmt Ovationen entgegen. Foto: ©FILMWELT, Foto: Carole Bethuel
(Kinostart: 15.12.) Warten auf Godot hinter Gittern: Ein erfolgloser Schauspieler probt mit Häftlingen absurdes Theater. Das wunderbar differenzierte Gruppen-Porträt von Regisseur Emmanuel Courcol bringt Gefängnisalltag in allen Facetten näher – zurecht als beste europäische Komödie 2020 prämiert.

Warten auf die Freilassung: Im Grunde sind die Gefängnisinsassen bereits Akteure in „Warten auf Godot“ – sie wissen es nur nicht. Das muss ihnen Étienne (Kad Merad) erst klar machen. Der leidenschaftliche, aber erfolglose Schauspieler hat aus Geldnot einen heiklen Job angenommen: Er soll mit Häftlingen das weltberühmte Stück von Samuel Beckett einstudieren.

 

Info

 

Ein Triumph

 

Regie: Emmanuel Courcol,

106 Min., Frankreich 2020;

mit: Kad Merad, David Ayala, Lamine Cissokho

 

Weitere Informationen zum Film

 

Anders als an einer normalen Bühne reißen sich die Laiendarsteller nicht gerade darum, bei diesem Inbegriff des absurden Theaters mitzumachen. Im Gegenteil: Sketche und Gags wären ihnen lieber. Außerdem fehlen ihnen manche Voraussetzungen – es fällt ihnen ausgesprochen schwer, ihren Text auswendig zu lernen; der Kleinganove Jordan (Pierre Lottin) kann nicht einmal richtig lesen. Auch ihre Impuls- und Körpersprachen-Kontrolle könnte besser sein.

 

Wie Wladimir + Estragon

 

Doch Kad Merad als Étienne gelingt es mit fabelhaftem Aplomb, ihnen während der ein halbes Jahr dauernden Proben zu verdeutlichen, dass Becketts Stück auch ihren Werdegang und ihre Welterfahrung beschreibt. Wie die beiden Hauptfiguren Wladimir und Estragon ihre Wartezeit mit Nichtstun, illusionärem Geschwätz und sinnfreien Spielchen totschlagen – das kennen die Knackis nur zu gut. Ebenso die rohen Befehle, mit denen Pozzo seinen Diener Lucky peinigt, und dessen blinden Gehorsam. Dazu das Auf-der-Stelle-treten, das alle Figuren trotz ihrer Sehnsucht nach Veränderung lähmt.

Offizieller Filmtrailer


 

Wiedereingliederung des Regisseurs

 

Wobei Étienne im Lauf der Zeit bewusst wird, dass er seinen Schützlingen durchaus ähnelt. Auch er trat zu hochfahrend auf, legte sich mit den falschen Leuten an und wurde schließlich aus dem Theaterbetrieb aussortiert. Den Ehrgeiz, mit dem er vergeblich eine Bühnenkarriere anstrebte, legt er nun in die Probenarbeit mit schweren Jungs – als Lohn der Mühen winkt eine reguläre Aufführung in einem Lyoner Theater. Mit seinem Streben nach Anerkennung bemühe er sich genauso um gesellschaftliche „Wiedereingliederung“ wie die Häftlinge, bemerkt seine Tochter Nina – die er derweil sträflich vernachlässigt.

 

Weil ihn die Tücken des Justizvollzugs in Anspruch nehmen: Seine Truppe ist undiszipliniert, einige Wächter ihr nicht wohlgesonnen, mehrmals steht das Projekt vor dem Abbruch. Das verhindert nur die ambitionierte Gefängnisdirektorin Ariane (Marina Hands); die frühere Fachanwältin für Steuerrecht wechselte ihren Job, um etwas Sinnvolles zu tun. Zudem muss Étienne mit dem heimlichen Herrscher der Haftanstalt paktieren: Der gerissene Kamel (Sofian Khammes) hat seine Mitinsassen derart in der Hand, dass er ein Mitglied der Truppe rauswerfen kann, um seine Rolle zu übernehmen. Kamel tut alles, damit sein Sohn ihn auf einer Bühne sieht.

 

Vorbereitung: sechs Monate Knast-Doku

 

Wozu es endlich kommt; die Premiere ist ein voller Erfolg. Was Aufsehen erregt: Andere Häuser fragen an, und unversehens wird aus der als einmalig geplanten Aufführung eine kleine Tournee. Zum Abschluss winkt ein Gastspiel im renommierten Pariser „Théâtre de l’Odéon“; der Musentempel ist eines von nur fünf „nationalen Theatern“ in Frankreich. Und dort fängt das eigentliche Stück erst an.

 

Dessen Pointen überraschen, ändern aber nicht den Gesamteindruck: Schon zuvor wird alles glänzend in Szene gesetzt. Zur Vorbereitung hat Regisseur Emmanuel Courcol sechs Monate lang ein Theaterprojekt in einem echten Gefängnis dokumentiert, was man seinem Spielfilm anmerkt. Courcol ist sichtlich mit dem Alltag hinter Gittern, seinen Ritualen und der Mentalität von Gefangenen vertraut; alles wirkt sehr authentisch, ohne real zu sein.

 

Splitterfasernackt Tournee-Ende feiern

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Cäsar muss sterben" – faszinierendes Dokudrama über Häftlinge, die Shakespeare-Tragödie einstudieren, von Paolo + Vittorio Taviani; Berlinale-Gewinner 2012

 

und hier eine Besprechung des Films "Der Glanz der Unsichtbaren" – launige französische Sozial-Komödie über Obdachlose von Louis-Julien Petit 

 

und hier einen Beitrag über den Film "La Mélodie – Der Klang von Paris" – französisches Drama über Integration durch Musik von Rachid Hami mit Kad Merad.

 

Das unterscheidet „Ein Triumph“ von dem anderen bedeutenden Film über Theater spielende Häftlinge: „Cäsar muss sterben“ wurde 2012 mit dem Goldenen Bären prämiert. Die Regie-Brüder Paolo und Vittorio Taviani hatten wirkliche Verbrecher beobachtet, die in einem italienischen Hochsicherheits-Gefängnis die Shakespeare-Tragödie „Julius Cäsar“ auf die Bühne bringen. Ergreifend und beklemmend – doch der Umstand, dass die Darsteller tatsächlich Kriminelle waren, setzte der filmischen Annäherung Grenzen.

 

Dagegen kann Regisseur Courcol seinen Protagonisten viel näher auf den Pelz rücken und ihre Charaktere ausloten: mit all ihren Stärken und Schwächen, Träumen und Ängsten, ihrem Humor und ihren Spleens. All das kommt in der ausführlich gezeigten Probenarbeit zum Vorschein; dadurch wird der Zuschauer unmerklich in diese Gemeinschaft hineingezogen, als sei er Teil des schrägen Ensembles. Wenn die Akteure am Ende ihrer Mini-Tournee splitterfasernackt und Schampus saufend feiern, freut man sich diebisch über ihren Streich.

 

Haftanstalt als comédie humaine

 

„Ein Triumph“ wurde 2020 mit dem Europäischen Filmpreis als „beste Komödie“ prämiert. So ehrenvoll diese Auszeichnung ist, greift sie doch zu kurz: Regisseur Courcol bringt dem Publikum die abgeriegelte Welt einer Haftanstalt – die sich genauer betrachtet vom übrigen Freilaufgehege gar nicht so sehr unterscheidet – in all ihren Facetten näher. Falls sein Film eine Komödie ist, dann eine comédie humaine.