Frankfurt/ Main

Gauri Gill

Gauri Gill: 'Untitled (74)', aus der Serie 'Acts of Appearance' (Menschen mit Pappmaché-Masken), seit 2015, Pigmentdruckverfahren, 106,6 x 71,1 cm, © Gauri Gill; Fotoquelle: Schirn Kunsthalle
Von Zeichnungen übersäte Fotos und Menschen unter Pappmaché-Tiermasken: Die Aufnahmen von Gauri Gill zeigen überraschende Facetten von Indien abseits geläufiger Klischees. Der südasiatischen Fotokünstlerin widmet die Schirn Kunsthalle eine so opulente wie anschaulich inszenierte Werkschau.

Chicken Curry, Bollywood-Filme und das Holi-Fest: Mehr als kulinarische und audiovisuelle Genüsse ist aus den unübersehbar reichen und vielfältigen Kulturen des Subkontinents hierzulande bislang kaum angekommen. Dabei ist Indien nicht nur mittlerweile das bevölkerungsreichste Land der Erde, sondern auch eine vitale Demokratie und Wirtschaftmacht: Jährlich emigrieren Hunderttausende gut ausgebildeter Inder, um in der übrigen Welt Geld zu verdienen – zunehmend auch in Europa.

 

Info

 

Gauri Gill

 

13.10.2022 - 08.01.2023

täglich außer montags 10 bis 19 Uhr,

mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr

in der Schirn Kunsthalle, Römerberg, Frankfurt am Main

 

Katalog 35 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Da ist es verdienstvoll, dass die Schirn Kunsthalle der indischen Fotografin Gauri Gill eine umfangreiche Werkschau ausrichtet; nach eigenen Angaben die erste überhaupt. Rund 240 meist großformatige Abzüge bieten anschauliche Einblicke in den Facettenreichtum und die Widersprüchlichkeit der indischen Gegenwart – wobei sie stets klarstellen, dass sie nur winzige Ausschnitte darstellen.

 

Zwischen Indien und USA

 

Gauri Gill wurde 1970 in Chandigarh geboren. Die in den 1950er Jahren von Le Corbusier geplante Musterstadt ist die Kapitale des indischen Bundesstaats Punjab; ein Drittel seiner Einwohner sind Sikhs. Gill studierte in New Delhi und machte 1994 einen Bachelor in Fotografie in New York. Zurück in Indien, arbeitete sie als Fotoreporterin für verschiedene Zeitschriften; 1995 gehörte sie zu den Gründern des politischen „Outlook Magazine“.

Impressionen der Ausstellung


 

Kooperation mit Warli-Maler

 

Im Jahr 2000 absolvierte sie ein Kunst-Masterstudium an der Stanford-Universität in Kalifornien. Anschließend gab sie den Fotojournalismus auf; seither ist sie als Fotokünstlerin tätig. Ihr Arbeitsschwerpunkt sind langjährige Reihen, in denen sie immer wieder dieselben Orte und Personen aufsucht, um ihre Entwicklung im Lauf der Zeit zu dokumentieren.

 

Etwa „Fields of Sight“: Mit diesem optischen Paukenschlag beginnt die Ausstellung. Seit 2013 kooperiert Gill mit dem Warli-Künstler Rajesh Vangad. Das kleine Volk der Warli zählt zu den Adivasi genannten Ureinwohnern des Subkontinents, die bis heute von der Hindu-Mehrheit diskriminiert werden; es lebt im Bundesstaat Maharashtra nördlich der Metropole Mumbai. Die Warli halten Mythen und Legenden ihrer Lokalreligion mit monochromer Malerei aus weißer Reispasten-Farbe fest.

 

Dynamisierte Momentaufnahmen

 

Früher wurde sie nur von Frauen auf Hauswände aufgetragen; seit den 1970er Jahren wird die aus geometrischen Grundformen entwickelte Zeichensprache und Symbolik auch von Männern auf Bildträger wie Leinwand und Papier gemalt. Rajesh Vangad benutzt dafür Fotografien von Gauri Gill. Ihre Schwarzweiß-Motive – Felder, Hütten oder Flussufer – übersät er mit Hunderten von winzigen Zeichnungen, die Piktogrammen ähneln.

 

Teils huldigen sie scheinbar nur einer Ästhetik der Fülle. Teils erzählen sie gleichsam Dutzende von Geschichten mit Strichmännchen: Die Figuren errichten Häuser und ganze Stadtteile, rasen mit Autos und Flugzeugen quer über Land und durch den Himmel – oder gehen mit Schiffen im Strom unter. So werden statische Momentaufnahmen einer Landschaft quasi dynamisiert: Als Zeichner macht Vangad anschaulich, wie viele Bedeutungsebenen in diesen Bildern für dort lebende Bewohner stecken, welche die Fotografin Gill naturgemäß nicht erfassen kann.

 

Kobra-Händler + Krokodil-Taxifahrer

 

So komplex wie diese Foto-Malerei-Hybride sind die übrigen Exponate nicht. Doch in der Serie „Acts of Appearance“ seit 2015 gelingt es Gill ebenfalls, die Abgebildeten durch einen originellen Einfall zu Mitwirkenden bei ihrer Darstellung zu machen. Sie ließ Adivasi-Künstler der Kokna und Warli Pappmaché-Masken anfertigen, die normalerweise bei Riten und Prozessionen getragen werden, nun aber alltägliche Situationen kommentieren.

 

Manche sind für hiesige Betrachter leicht zu entschlüsseln. Ein Kramladen-Händler trägt beim Abwiegen der Waren eine Kobra-Maske; das dürfte für Gier und Falschheit stehen. Der Fahrer eines Taxi-Kleinbusses hat ein Krokodil-Haupt übergestülpt, sein Fahrgast das Zifferblatt einer Uhr – Zeit ist Geld, und davon kann der Chauffeur kaum genug bekommen. Ein Mann, der am Desktop-PC arbeitet, hat selbst einen Monitor-Quadratschädel; alles klar!

 

Wüste in Touristen-Region

 

Andere reflektieren spezifisch indische Verhältnisse: Ein Paar, das Gemüse offenbar zum Kochen vorbereitet, verbirgt sich unter Insekten-Köpfen – als Anspielung auf Ungeziefer, das Vorräte vertilgt? Und der Arzt, der eine Patientin in der Dorfklinik versorgt, verbirgt sich unter einer Art Nagetier-Haube. Soll sie eine Ratte, eine Maus oder ein Wiesel verkörpern – und warum?

 

Eindeutig in ihrer ausgefeilten Schwarzweiß-Schlichtheit sind hingegen die „Notes from the Desert“, die Gauri Gill seit 1999 in Rajasthan festhält. Dieser Bundesstaat mit seinen prächtigen historischen Stätten und Baudenkmälern wird häufig von Touristen besucht; in die unwirtliche Wüste Thar an der Grenze zu Pakistan dürften sie sich aber nur selten verirren.

 

Sechs Sandpisten-Kilometer Schulweg

 

Was Gill dort aufnimmt, assoziiert man eher mit der Sahara oder der Wüste Gobi. In sandiger Weite scharen sich Menschen unter einem der wenigen struppigen Bäume zusammen oder holen Wasser am einzigen Brunnen weit und breit. Eine junge Frau, die mit voller Kraft am Zugseil zieht, veranschaulicht, wie mühevoll die Beschaffung des lebensspendenden Nasses ist. Unter dem Bild eines Mädchens auf einer einsamen Sandpiste stellt die Erläuterung klar, wie lebensfeindlich die Umgebung ist: „Bhalmati auf dem Nachhauseweg von der Schule, eine Entfernung von sechs Kilometern“.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Facing India" – furiose Schau mit Werken zeitgenössischer Künstlerinnen aus Indien im Kunstmuseum Wolfsburg

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Subodh Gupta – Everything is inside" – brillante Werkschau des indischen Gegenwarts-Künstlers im Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt/ Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Indien entdecken!" – facettenreicher Überblick über Nachkriegs-Moderne + Gegenwartskunst in der Zitadelle Spandau, Berlin

 

und hier einen Beitrag über den Film "An den Ufern der heiligen Flüsse" – Dokumentation über das indische Kumbh-Mela-Fest am Ganges von Pan Nalin.

 

Viele solcher Mädchen hat Gill porträtiert: Aus ihren Gesichtern spricht Wissen um den Ernst des Lebens, manchmal aber auch kindliche Freude am Dasein. Etwa bei den Teilnehmerinnen des regionalen Festes „Balik Mela“ für junge Frauen: Viele von ihnen werfen sich lustvoll in Pose, allein oder auf dem Objekt ihrer Wünsche wie einem Motorrad. Andere scheinen Gesten von Schauspielerinnen oder die Imponierhaltung von Autoritäten nachzuahmen.

 

Brahmanen-Zeremonie für IT-Kräfte

 

Ihren Landsleuten hat Gauri Gill auch in den Vereinigten Staaten nachgespürt. Die Serie „The Americans“ – so lautete 1958 ebenfalls der Titel eines epochalen Fotobuchs von Robert Frank – dokumentiert vor allem, wie Indisches in der Fremde allmählich verwischt und verloren geht. Da nehmen IT-Mitarbeiter 2002 mit nacktem Oberkörper an einer Seilknüpf-Zeremonie für Brahmanen teil, doch mürrische Gesichter signalisieren vor allem Desinteresse. Da werfen sich die Teilnehmer einer „Queer Party“ für Exilinder in bunten Fummel – aber unterscheiden sich kaum von westlichen Bollywood-Fans.

 

Nicht jede Fotoserie ist so ausdrucksstark. „The Mark on the Wall“ über die Inneneinrichtung von Dorfschulen mit Lerntafeln und Wandbildern sind für Nicht-Hindi-Kenner kaum verständlich. Und monumentale Aufnahmen improvisierter Gräber in der Wüste Thar – meist nur Steine und Zweige im Wüstensand – taugen als Memento Mori wenig. Nichtsdestoweniger: Gauri Gills Bilder bieten überraschende und anrührende Zugänge zur südasiatischen Erfahrungswelt abseits geläufiger Klischees.