Kristina Lindström + Kristian Petri

The Most Beautiful Boy in the World

Björn Andrésen bei den Dreharbeiten zu "Tod in Venedig". Foto: Copyright Mario Tursi, Fotoquelle: © 2022 missingFILMs - Filmverleih & Weltvertrieb
(Kinostart: 29.12.) #MeToo unter Männern: 1970 spielte Björn Andrésen den Jüngling Tadzio in Viscontis „Tod in Venedig“ – so wurde der damals 15-Jährige unfreiwillig zum Sexsymbol der Schwulenszene. Diese Doku porträtiert ihn als Gescheiterten – im Stil skandinavischer Elendspornographie.

Björn Andrésen ist zugestoßen, wovon alle Kandidaten von Casting-Shows träumen: Er wurde von einem berühmten Regisseur entdeckt und im Nu zu Weltruhm empor katapultiert. 1970 engagierte ihn Luchino Visconti für die Rolle des Tadzio in seiner Verfilmung von Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. Darin verfällt der alternde Komponist Gustav von Aschenbach den Reizen eines fremden polnischen Jünglings und bleibt ihm zuliebe in der Lagunenstadt, bis er an der Cholera stirbt – ohne dem Objekt seiner Begierde nahe gekommen zu sein.

 

Info

 

The Most Beautiful Boy in the World 

 

Regie: Kristina Lindström + Kristian Petri,

94 Min., Schweden 2020;

mit: Björn Andrésen, Luchino Visconti, Mario Tursi

 

Weitere Informationen zum Film

 

Viscontis Werk war ein großer Erfolg, wurde beim Festival in Cannes 1971 mit einem Sonderpreis prämiert und galt lange als mustergültige Literaturverfilmung. Nicht zuletzt, darf man annehmen, weil er unerfüllbare schwule und pädophile Sehnsüchte exquisit bebilderte; Anfang der 1970er Jahre war Homosexualität in den meisten Staaten noch verboten. Zur Projektionsfläche solchen Schmachtens wurde das Gesicht des damals 15-jährigen Björn Andrésen – und er selbst zum Opfer seines makellosen Antlitzes.

 

Herrischer Regisseur + blasse Bübchen

 

Von Viscontis Suche in Stockholm nach dem idealen Tadzio existieren Super-Acht-Aufnahmen, die das schwedische Regie-Duo Kristina Lindström und Kristian Petri an den Anfang ihrer Doku stellt. Man sieht den italienischen Starregisseur, wie er recht herrisch blasse Bübchen abfertigt, bis er auf Andrésen stößt. Der hoch aufgeschossene Knabe mit halblangem, welligen Haar und scheuem Lächeln fasziniert ihn sofort; er lässt Björn mit blankem Oberkörper posieren und herumlaufen.

Offizieller Filmtrailer


 

Popstar in Japan + It-Boy in Paris

 

Bei den Dreharbeiten in Venedig wurde von ihm kaum mehr verlangt, berichtet Andrésen ein halbes Jahrhundert später: „Geh los, bleib stehen, dreh Dich um und lächele“ – das seien alle Anweisungen von Visconti gewesen. Auf der Pressekonferenz zur Filmvorstellung in Cannes sprach der Regisseur erstmals vom „schönsten Jungen der Welt“; dieses Etikett sollte an ihm fortan wie Pech kleben. Nach der Premiere habe Visconti ihn in einen Nachtklub für Schwule geschleift, wo ihn gaffende Gäste mit obszönen Gesten arg überfordert hätten, so Andrésen: Er ertränkte seine Verwirrung in Alkohol.

 

Dazu gibt es naturgemäß keine Bilder, wohl aber von der zweiten Etappe seines Erfolgs: In Japan wurde er zu einer der ersten westlichen Pop-Ikonen – samt Schlager-LPs, die er auf Japanisch sang, und kreischenden Fans. Ohnehin begreift sich Andrésen, der schon als Heranwachsender gut Klavier spielte, eher als Musiker denn als Schauspieler. Mitte der 1970er Jahre mutierte er zu einer Art It-Boy: Reiche Gönner in Paris mieteten ihm Wohnungen und hielten ihn aus. Über intime Gegenleistungen schweigt der Film sich aus.

 

Verlauste + verdreckte Wohnung

 

Wobei Lindström und Petri eine kulturprotestantische Form der Prüderie praktizieren: Alles Erotische und Sexuelle wird peinlich ausgespart. Sogar Andrésens Ex-Frau ist zwar als nackte Schwangere auf Privatfotos zu sehen, doch ihr Name Sanna taucht nur in einem Untertitel auf. Dagegen schwelgt diese Doku in Seelenzergliederung und Selbstzerfleischung, zu denen die Hauptfigur neigt. Mit langem schlohweißem Haar, Zottelbart und faltigen Zügen ähnelt Andrésen inzwischen eher einem ausgemergelten Altrocker als einem Schauspieler – obwohl er gelegentlich in TV- und Filmproduktionen auftritt, etwa 2019 im Folk-Horrorfilm „Midsommar“ von Ari Aster.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Midsommar" - unkonventioneller Folk-Horrorfilm aus Schweden von Ari Aster mit Björn Andrésen

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Blow Up - Antonionis Filmklassiker und die Fotografie" in der Galerie C/O Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Pasolini Roma" – exzellente Retrospektive über Leben + Werk von Pier Paolo Pasolini im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Il deserto rosso now – Photographische Reaktionen auf Antonionis Filmklassiker" in der SK Stiftung Kultur, Köln.

 

Dagegen führt ihn die Doku als gründlich gescheiterte Existenz vor: In der ersten Gegenwarts-Szene schildert seine Freundin Jessica Vennberg, wie verlaust und verdreckt seine Wohnung war, bevor sie zehn Tage lang putzten. Danach folgt ein Reigen familiärer Katastrophen: Die flatterhafte Mutter, die ihm nie den Namen seines Vaters enthüllte, schob den kleinen Björn zur Großmutter ab. Die entpuppte sich als Eislauf-Oma und drängte ihn zu einer Kinderstar-Karriere; bei Viscontis Dreharbeiten war sie auf Schritt und Tritt dabei.

 

Tadzio-Rolle als lästiger Schatten

 

Der plötzliche Ruhm ließ ihn völlig haltlos werden, bilanziert Andrésen. Seine eigene Familie zerbrach am plötzlichen Kindstod seines Sohnes, an dem er sich schuldig fühlt; er war an diesem Tag betrunken. Diese Chronik eines Niedergangs illustriert das Regie-Duo mit pathetisch aufgeladenen, aber letztlich banalen Einstellungen – wenn etwa Andrésen weinend die Polizeiakte über den unaufgeklärten Tod seiner Mutter liest.

 

Dabei gerät der Anlass der Doku – seine Rolle im Visconti-Film und deren Folgen – bald aus dem Blick; er hält sie ohnedies nicht für entscheidend. „Tadzio war zwar kein Trauma, aber doch ein lästiger Schatten. Ein Leben ohne ihn wäre auf jeden Fall leichter gewesen, aber auch weniger interessant“, erzählte Andrésen 2002 dem Magazin „Stern“. Was an seinem Werdegang interessant sein soll, erschließt sich jedoch nicht. Dieses in kaputter Kindheit und dadurch ausgelösten Komplexen wühlende Filmporträt läuft auf spezifisch skandinavische Elendspornographie hinaus.