Florian Hoffmann

Stille Post

Leyla (Kristin Suckow) zeigt ihrem Freund Khalil (Hadi Khanjanpour) Kriegsvideos aus seiner kurdischen Heimatstadt in der Türkei. Foto: Nina Reichmann
(Kinostart: 15.12.) Machtkampf um die Aufmerksamkeit des Publikums: Amateurvideos über Kämpfe in Kurdistan, die ein Exilkurde prüfen soll, sind erst nachrichtenwürdig, nachdem sie manipuliert wurden. Regisseur Florian Hoffmann stellt eindringlich die Mechanismen der Spektakelgesellschaft dar.

Bilder des Krieges: Panzer rollen durch die Straßen, Schüsse fallen, Sirenen heulen, Menschen fliehen und fallen zu Boden. Panik und Angst bestimmen die Szene, mit einer wackeligen Handykamera gefilmt, die Qualität ist schlecht. Die Nachrichten sind jeden Tag voll von Videos wie diesem – von den sozialen Medien ganz zu schweigen.

 

Info

 

Stille Post

 

Regie: Florian Hoffmann,

94 Min., Deutschland 2021;

mit: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow, Aziz Capkurt

 

Weitere Informationen zum Film

 

Als Khalil (Hadi Khanjanpour) dieses footage zum ersten Mal sieht, ist er dennoch schockiert. Er kann das Filmmaterial nur schwer einordnen, das aus seiner kurdischen Heimatstadt Cizre in der Türkei stammen soll – er ist schon zu lange nicht mehr dort gewesen. Doch plötzlich glaubt er, die Stimme seiner Schwester hinter der Kamera zu erkennen. Das ist eigentlich unmöglich: Es hieß, seine gesamte Familie sei im Kampf getötet worden, als er klein war.

 

Verstörende Bilder

 

Mittlerweile lebt Khalil als Grundschullehrer in Berlin mit seiner deutschen Freundin Leyla (Kristin Suckow), die bei einer TV-Nachrichtenagentur arbeitet. Sie soll die Authentizität der Aktivistenvideos überprüfen und bittet ihn um Hilfe. Die verstörenden Bilder – und der Gedanke an seine Schwester – lassen Khalil nicht mehr los. Er wendet sich an die kurdische Exilgemeinschaft in der Hauptstadt und versucht, mehr über die Geschehnisse in Cizre zu erfahren.

Offizieller Filmtrailer


 

Krieg seit Jahrzehnten

 

Doch Informationen haben ihren Preis: Im Gegenzug soll Khalil dafür sorgen, dass der türkische Militäreinsatz gegen die kurdische Stadt in den deutschen Medien publik wird. Cizre ist seit Wochen abgeriegelt: „Keiner kommt rein, keiner kommt raus“, erklärt ihm ein kurdischer „Bruder“ namens Hamid (Aziz Çapkurt) die Situation. Doch die Bilder aus Cizre erweisen sich im Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit schnell als Nachrichten von gestern – schon seit Jahrzehnten führen türkische Truppen einen Krieg gegen die Kurden in der Osttürkei. Daher meinen Leylas Vorgesetzte, die Bilder seien für aktuelle Berichterstattung nicht brisant genug.

 

„Stille Post“ ist, wie der Titel vermuten lässt, mehr als ein eindringliches Polit-Drama mit Aktualitätsbezug. Was ist eine Nachricht? Wie stark ist die Macht der Bilder? Und wer entscheidet, was heute in den Medien thematisiert wird und was nicht? Es sind große Fragen, die Regisseur Florian Hoffmann stellt – in einem Film, der auf den ersten Blick unscheinbar wirkt, aber eine enorme Sogkraft entwickelt, je mehr Khalils geordneter Alltag aus den Fugen gerät.

 

Kämpfe im Klassenzimmer

 

Hoffmann vermittelt nachfühlbar, unter welchem Druck Khalil steht – er fühlt sich zunehmend verpflichtet, für die Menschen in seiner Heimat zu kämpfen; koste es, was es wolle. Mit Leyla manipuliert er schließlich das Videomaterial, um im Wettstreit der Meldungen mithalten zu können. Und Hoffmann zeigt, wie sich die Spannungen, die sein Protagonist spürt, auch auf den deutschen Straßen entladen.

 

Selbst vor seinem Klassenzimmer macht der jahrzehntealte Konflikt nicht halt, jenseits von Demonstrationen und Gewalt. Wütend verlässt die junge stolze Kurdin Melda (Melda Kanbak) am Morgen nach der Berichterstattung über Cizre den Unterricht, weil sie keine Lust mehr hat, ständig Zielscheibe verbaler Angriffe eines türkischen Mitschülers zu sein.

 

Handyvideos brechen Melodramatik

 

Gleichzeitig führt der Film sein Publikum beinahe unmerklich in ein Dilemma: Obwohl es sich der Gefahren von Fake News durchaus bewusst ist, fiebert es mit Khalil und Leyla mit, anstatt sie zu verurteilen, weil ihr Einsatz einer gerechten Sache dient. Der Erfolg ihrer Aktion gibt ihnen Recht. Doch Hoffmann legt es darauf an, dass der Zuschauer sich über die Zulässigkeit ihres Handelns selbst Gedanken macht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Lügen der Sieger" - prägnanter Polit-Thriller über Medien-Manipulation von Christoph Hochhäusler mit Florian David Fitz

 

und hier eine Besprechung des Films  "Babamin Sesi – Die Stimme meines Vaters" – Familienporträt kurdischer Aleviten in der Türkei von Orhan Eskiköy + Zeynal Doğan

 

und hier einen Beitrag über den Film  "Once upon a time in Anatolia" – perfektes Roadmovie als Total-Panorama der Türkei von Nuri Bilge Ceylan

 

und hier einen Bericht über den Film  "Bakur - North" - Doku über die kurdische PKK-Guerilla von Çayan Demirel + Ertuğrul Mavioğlu.

 

Die gezeigten Handyvideos von Aktivisten aus der kurdischen Krisenregion sind echt. Der Regisseur hat sie im Zuge seiner Recherchen vor Ort in Cizre zugespielt bekommen. Sie verleihen der Geschichte Gewicht, wenn das Drehbuch stellenweise zu sehr ins Melodramatische abzurutschen droht. Die Kamera von Carmen Treichl hält die Bilder in nüchternen Blau- und Grautönen, während Khalil durch den nasskalten Berliner Winter läuft oder nachts im Dunkeln vor dem Laptop kauert.

 

Die Zerissenheit des Außenseiters

 

Gebannt starrt er immer wieder auf die Bilder – und der Zuschauer auf Hadi Khanjanpour, der diesen schweren Film auf seinen schmalen Schultern trägt. Seine Zerrissenheit, die Hilflosigkeit angesichts der Situation in Cizre, die verzweifelte Hoffnung, dass seine Schwester doch noch am Leben sein könnte: All das zehrt an Khalil, dem Außenseiter, der in seiner Heimat als „Deutscher“ betrachtet wird, aber auch in Berlin trotz Freundin, Job und Neubauwohnung längst nicht angekommen ist.

 

Hoffmann greift all diese Aspekte auf; er will mit diesem kleinen Film viel bewegen, weil er selbst tief in das Thema eingestiegen ist: Drei Jahre hat er dafür recherchiert. „Stille Post“ kann nicht jeden Aspekt beleuchten, auch nicht jedes Argument hinterfragen – aber der Film ist ein bewegendes Polit-Drama, der die aktuelle Debatte um die Macht der Bilder bereichert.