Cécile de France + Vincent Lacoste

Verlorene Illusionen

Lucien de Rubempré (Benjamin Voisin) verteilt eine neue Ausgabe seiner Zeitung. Foto: Cinemien
(Kinostart: 22.12.) Die Geburt der Massenmedien aus dem Geist der Korruption: Der Held von Balzacs Roman-Klassiker steigt zum skrupellosen Starjournalisten auf, bis er zu hoch pokert. Das verfilmt Regisseur Xavier Giannoli als umwerfend sinnliches Sittenbild für die Youtube-Generation.

In der so genannten Restaurations-Epoche zwischen 1815 und 1830, in der Honoré de Balzacs Roman „Verlorene Illusionen“ angesiedelt ist, spielten Zeitungen eine ähnliche Rolle wie heute Youtube und andere Soziale Medien: Technische Neuerungen, damals die Rotationsdruckmaschine, verhalfen ihnen im Nu zu ungeahnter Verbreitung. Zeitungen hatten meist nur vier Seiten, also einen gefalzten Druckbogen, aber erschienen teilweise mehrmals täglich – sie waren das einzige Nachrichtenmedium.

 

Info

 

Verlorene Illusionen

 

Regie: Xavier Giannoli

149 Min., Frankreich/ Belgien 2022;

mit: Benjamin Voisin, Cécile de France, Vincent Lacoste, Gérard Depardieu

 

Weitere Informationen zum Film

 

Da es dafür keine geregelte Ausbildung gab, versuchten sich alle möglichen Leute als Journalisten; mit etwas Talent und Glück kamen sie in Redaktionen unter. Vorbildung zählte wenig, Chuzpe dagegen viel: Berichte waren eine Mischung aus ein paar Fakten und reichlich Vermutungen oder Gerüchten, oft gewürzt mit Spott oder übler Nachrede. Wer gut schrieb, hatte bald eine treue Leserschaft. Und wer sich als influencer clever anstellte, konnte seine follower in Bares ummünzen: Etliche Auftraggeber zahlten gern für Schleichwerbung in ihrem Sinne. Unabhängigkeit, Neutralität, Ausgewogenheit? Fehlanzeige!

 

Vater Chardon + Mutter de Rubempré

 

Diese korrupte Wildwest-Phase der Presse nimmt Balzac in seinem Klassiker genüsslich aufs Korn: Sein Held Lucien steigt kometenhaft auf und ebenso schnell wieder ab. Wie zwiespältig und zerrissen diese Figur ist, macht schon ihr Nachname deutlich: Lucien heißt eigentlich Chardon nach seinem Vater, einem kleinbürgerlichen Apotheker in Angoulême. Doch er nennt sich de Rubempré; aus diesem Geschlecht stammt seine Mutter, die aber nur eine Hebamme ist. Trotzdem versucht Lucien mit allen Mitteln, wieder in den Adelsstand aufzusteigen – was zum Auslöser seines tiefen Falls werden wird.

Offizieller Filmtrailer


 

Mit Versen die Landadlige betören

 

Der Roman besteht aus drei ähnlich langen Teilen: Luciens Herkunftsmilieu in der Provinz, sein Weggang und Leben in Paris, sowie seine Rückkehr in die Provinz. Regisseur Xavier Giannoli lässt den dritten Teil ganz weg und rafft den ersten zu wenigen Schlüsselszenen zusammen – das erlaubt ihm, den zweiten als umwerfend pointiertes und sinnliches Sittenbild breit auszumalen.

 

Der hübsche und begabte Lucien (Benjamin Voisin) gewinnt mit blumigen Versen die Zuneigung der älteren Landadligen Louise de Bargeton (Cécile de France), die unter ihrem Grobian-Gatten leidet. Der droht, als die Liaison ruchbar wird, Luciens Geschwister zu ruinieren – also flieht das Liebespaar nach Paris. In der Oper führt Louise ihn bei ihrer einflussreichen Cousine Marquise d’Espard ein, doch Lucien verpatzt seinen ersten Auftritt in der gehobenen Gesellschaft gründlich. Louise lässt ihn fallen, und ihm geht das Geld aus.

 

Ein analphabetischer Verleger

 

In einer Schenke lernt er Étienne Lousteau (Vincent Lacoste) kennen. Der ständig Marihuana rauchende Chefredakteur heuert Lucien nicht nur für sein liberales Revolverblatt „Le Corsaire“ an, sondern stellt ihn auch dem Verleger Dauriat (Gérard Depardieu) vor. Dieser Ex-Gemüsehändler kann zwar nicht lesen, hat aber einen untrüglichen Geschäftssinn: Er besticht Lucien für eine positive Besprechung des Debütromans von Nathan (Xavier Dolan), der sich mit opportunistischem Geschick in den besten Kreisen bewegt.

 

Binnen kurzem steigt Lucien zur berühmt-berüchtigten Edelfeder auf: Mit geistreichen Lobreden oder Verrissen schreibt er Theaterpremieren zu Erfolgen hoch oder zu Pleiten runter – wie es der Claque im Parkett gelingt, die sich für Beifall oder Buhrufe entlohnen lässt. Seinem Charme erliegt auch die Nachwuchs-Schauspielerin Coralie (Salomé Dewaels), die sich verschuldet, um mit ihm auf großem Fuß zu leben. Doch bei seiner Jagd nach dem Adelstitel pokert Lucien zu hoch: Als der Emporkömmling die Seiten wechselt und sich von einer Royalisten-Gazette abwerben lässt, rächen sich seine liberalen Freunde grausam.

 

Geschickte Tempowechsel je nach Sujet

 

Es geht hoch her zwischen Theaterfoyers, Redaktionsstuben und herrschaftlichen Salons; Champagner fließt in Strömen, Aktricen entblößen kokett ihre Strumpfbänder, und Lousteau steckt sich eine Pfeife nach der anderen an. In dieser fiebrigen Atmosphäre mit zahlreichen Mit- und Gegenspielern behält der Zuschauer jederzeit den Überblick über ihre Intrigen, weil Regisseur Xavier Giannoli sehr geschickt das Tempo drosselt oder wieder anzieht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Erscheinung" – komplexes Drama über religiöse Visionen von Xavier Giannoli

 

und hier eine Besprechung des Films "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne" – charmante Sittenkomödie über eine Möchtegern-Operndiva von Xavier Giannoli

 

und hier einen Bericht über den Film "Zimmer 212 – In einer magischen Nacht" – fantastische Screwball-Komödie über notorische Ehebrecherin von Christophe Honoré mit Vincent Lacoste

 

und hier einen Beitrag über den Film "Confession" – exzellente Verfilmung des Liebesroman-Klassikers von Alfred de Musset durch Sylvie Verheyde mit Pete Doherty.

 

So fertigt er die Provinz in wenigen Einstellungen ab. Schwärmerischer Jüngling, frustrierte feine Dame, eifersüchtiger Ehemann – alles klar. Welchen Quantensprung der Umzug des Paars nach Paris darstellt, kostet dort die Kamera in allen Details aus: bis zum letzten Manschettenknopf und Haarpinsel, als sich Lucien für seinen ersten Opernbesuch ausstaffiert. Später macht der Film einen ausgiebigen Rundgang durch das Vergnügungsviertel im Palais Royal zwischen Prostituierten und Spielhallen, bis er im Verlagsbüro von Dauriat landet – um zu veranschaulichen, wie nah damals all das beieinander lag.

 

Mit sieben Césars prämiert

 

Dann nimmt er sich wiederum Zeit für geschliffene Wortgefechte zwischen Literaten, in denen die Bonmots so umherflattern wie die Francs-Scheine der Bestechungsgelder. Zudem integriert Regisseur Giannoli kongenial den Esprit von Balzac, indem er deskriptive Passagen von Original-Romanzeilen sarkastisch kommentieren lässt: Selten wird die spezielle Tonlage eines Buchs so geschmeidig in seine Verfilmung mit einbezogen.

 

Zweieinhalb Stunden Laufzeit ohne eine lange Minute: Für diese meisterliche Klassiker-Adaption wurde „Verlorene Illusionen“ im Februar mit sieben Césars ausgezeichnet, den wichtigsten französischen Filmpreisen. Vielleicht auch wegen ihrer Aktualität: Bei Youtube, Instagram & Co. tummeln sich zahllose Möchtegern-Lucien de Rubemprés, die demnächst wieder zu Lucien Chardons zurechtgestutzt werden dürften.