„Weißes Rauschen“ ist derjenige Roman, der den US-Autor Don DeLillo berühmt machte: eine beißende Satire auf den American Way of Life in den 1980er Jahren mit seinem ungezügelten Konsumismus. Erstaunlich an der Adaption von Noah Baumbach, die er mit großem Budget für Netflix umgesetzt hat, ist vor allem eines: dass es so lange dauert hat, bis das 1985 erschienene und vielfach ausgezeichnete Buch schließlich verfilmt worden ist.
Info
Weißes Rauschen
Regie: Noah Baumbach,
136 Min., USA/ Großbritannien 2022;
mit: Adam Driver, Greta Gerwig, Don Cheadle, Lars Eidinger
Weitere Informationen zum Film
Beeindruckende Wampe
Diesen vierfachen Patchwork-Familienvater hat Baumbach mit einem vielleicht etwas zu jungen Hauptdarsteller besetzt. Andererseits ist Adam Drivers Minenspiel, das innerhalb von Sekundenbruchteilen zwischen völliger Verpeiltheit und genialischer Suggestionskraft umzuschalten vermag, genauso beeindruckend wie sein für die Rolle angefutterter Bauch.
Offizieller Filmtrailer
Stieftochter zeiht Mutter der Drogensucht
Jack ist mit Murray Siskind (großartig: Don Cheadle) befreundet, einem Popkultur- und Elvis-Forscher. Gemeinsam philosophieren die beiden Hochschullehrer ausgiebig über Verdrängungsarbeit. Am liebsten, während sie ihre Einkaufswagen durch den riesigen Supermarkt des Ortes schieben. Inmitten der gigantischen Warenberge fühlen sie sich nicht nur vor den Unwägbarkeiten der kreatürlichen Existenz geschützt, sondern sie treffen auch auf Jacks Kinder und seine Frau Babette (Greta Gerwig). So markiert der Konsumtempel den Übergang vom Öffentlichen ins Private.
Zu Hause weicht das Ansehen, das Jack am College genießt, den Herausforderungen von Be- und Erziehungsarbeit. Tochter Debbie (Raffey Cassidy) spioniert ihrer Mutter hinterher und versucht ihren Stiefvater zu überzeugen, dass Babette auf dem Weg in die Drogensucht sei. Immer wieder nimmt sie ein geheimnisvolles Medikament ein, streitet das aber ab, sobald Jack sie danach fragt.
Massenflucht vor der Katastrophe
Wie im College wird derlei auch im geräumigen Haus der Gladneys von einem Hintergrundrauschen aus unaufhörlichem Gerede grundiert. Alles in allem verläuft ihr Leben angenehm bürgerlich und sorgenfrei, gäbe es nicht eine permanente Paranoia angesichts des Wissens, dass der Tod unausweichlich ist. Darüber hilft Jack und Babette nicht einmal ihre Liebe hinweg, die sie in jedem zweiten an den Partner gerichteten Satz beschwören.
Plötzlich ein Chemieunfall: Unweit der Kleinstadt rast ein Truck in einen Güterzug, dessen Kesselwaggons giftige Gase transportieren. Durch diese Katastrophe bricht die zuvor latente Angst mit voller Wucht in den Alltag der Familie ein. Zuerst leugnet Jack die Gefahr, doch bald fliehen die Gladneys wie ihre Nachbarn in wilder Panik. Dabei geht das permanente Geplapper im Auto weiter: auf Straßen voller Staus bis zum Horizont vor der Kulisse apokalyptischer Blitze und Wolkenbilder am Himmel.
Todesangst als Basis aller Kulturen
Im ersten Teil gelingt es Baumbach, mit ständig kreisender Kamera und detailverliebter Ausstattung das einlullende Dasein in einer US-Universitätskleinstadt betörend realistisch darzustellen. Doch beim Desaster, das er im Vergleich zur Buchvorlage deutlich ausbaut, verhebt er sich. Die Flucht vor vermeintlich unsichtbaren Gefahren mit vielen Massenszenen samt witzig gedachten Übertreibungen wird zur grotesken Odyssee. Unzählige Unfälle und Ströme fliehender Menschen, die halbnackt Camper überrennen, vermitteln den Eindruck, dass der Film die existenzielle Dimension seines Themas kaum ernst nimmt.
Hintergrund
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und hier einen Beitrag über den Film "Inherent Vice – Natürliche Mängel" – Verfilmung des postmodernen Späthippie-Romans von Thomas Pynchon durch Paul Thomas Anderson.
Barbara Sukowa als atheistische Nonne
Um ihre Todesangst zu überwinden, hat Babette – wie Jack herausfindet – an dubiosen Versuchsreihen mit dem nicht zugelassenen Medikament „Dylar“ teilgenommen; sie war sogar bereit, sich zu prostituieren, um ihre tägliche Dosis zu bekommen. Dafür will er Rache nehmen. Nachdem ihn sein Kollege Murray – natürlich nur theoretisch – ermutigt hat, vom Opfer zum Killer zu werden, setzt Jack seinen Rat um.
Unversehens wächst sich der Film nun zum befremdlichen Thriller aus, dessen Bodyhorror an das Werk von David Cronenberg erinnert. Zu allem Überfluss treten auch noch Lars Eidinger als diabolisch verkommener Ex-Wissenschaftler und Barbara Sukowa als atheistische deutschstämmige Nonne auf.
Musikvideo-Ballett in Mega-Mall
Am Ende, als man den Film als abstrus und verkorkst abschreiben will, machen die Akteure einen letzten Ausflug in die noch üppiger bestückte Mega-Mall – der mündet in eine der schönsten Abspann-Sequenzen der Kinogeschichte. Dazu choreographiert Regisseur Baumbach ein bezauberndes Musikvideo-Ballett zwischen bonbonbunten Regalreihen: ein Sieg der Ästhetik über den Inhalt, der dem Roman aus heutiger Sicht durchaus angemessen scheint.
Ab 30.12. bei Netflix