Aachen

Belkis Ayón: Ya Estamos Aquí

Belkis Ayón: Ohne Titel (Weiße Figur kniend in der Mitte), Collagraphie auf Papier, 1995. Foto: ohe
Mein Leben im Busch der Geister: Die früh verstorbene Künstlerin Belkis Ayón hat die Mythen der afrokubanischen Abakuá-Religion in monumentale Druckgrafiken übertragen. Ihr so faszinierendes wie verstörendes Werk zeigt das Ludwig Forum – in der ersten Retrospektive im deutschsprachigen Raum.

Willkommen in einem Schattenreich: Lebensgroße Gestalten in allen Grautönen – manchmal weiß, selten farbig – bevölkern die Wände. Ihre Proportionen sind realistisch, ihre Glieder geschmeidig, doch ihnen fehlt fast jede Binnenzeichnung; allenfalls sind die Leiber von Mustern überzogen, die wie Fischschuppen oder Schlangenhaut wirken. Am eigenartigsten sehen die Gesichter aus: mit großen ausdrucksstarken Augen, doch ohne Münder, Nasen und Ohren.

 

Info

 

Belkis Ayón: Ya Estamos Aquí

 

22.10.2023 - 12.03.2023

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

im Ludwig Forum für Internationale Kunst, Jülicher Straße 97-109, Aachen

 

Begleitheft gratis

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Dass diese Silhouetten sich auf den Sehsinn beschränken, hat einen guten Grund: Sie sollen nichts preisgeben – weder mündlich noch durch Mimik. Denn sie sind Repräsentanten der afrokubanischen Religion Abakuá, die ihre Mitglieder zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Dieser Kult entstand in der Cross-River-Region in Südost-Nigeria und kam mit dem Sklavenhandel Anfang des 19. Jahrhunderts nach Kuba, wo er bis heute viele Anhänger hat. Soziologen haben ihn die „afrokubanische Version der Freimaurerei“ genannt.

 

Geheimnisvolle Vorstellungswelt

 

Wie sein europäisches Pendant ist Abakuá reine Männersache – Frauen dürfen den streng hierarchisch organisierten Geheimbünden nicht angehören. Dennoch beschäftigte sich die kubanische Künstlerin Belkis Ayón (1967-1999) ihr Leben lang bis zu ihrem frühen Tod durch Selbstmord intensiv mit Abakuá. Obwohl nach eigenen Worten Atheistin, hat sie den Pantheon dieser synkretistischen Religion in zahlreichen großformatigen Kompositionen abgebildet. Sie gewähren einzigartige Einblicke in eine geheimnisvolle Vorstellungswelt.

Feature zur Ausstellung; © Ludwig Forum Aachen


 

Deutschland-Debüt in Kirche 1995

 

Dafür wählte Ayón schon während ihres Studiums an kubanischen Kunsthochschulen das aufwändige und selten benutzte Verfahren der Collagrafie. Sie zeichnete einzelne Elemente auf dünnen Pappkarton, schnitt diese aus und montierte sie zu Druckmatrizen; deren Abzüge fügte sie wiederum zu Bildern aus vier, sechs oder noch mehr Blättern zusammen. Rund 70 solcher Arbeiten werden nun im Ludwig Forum für internationale Kunst gezeigt; in der ersten Retrospektive im deutschsprachigen Raum.

 

Obwohl die Künstlerin ihr Debüt in der Region schon vor einem Vierteljahrhundert hatte: 1995 stellte sie in einer Kirche nahe Aachen vier Tableaus und 14 Bilder zu den Kreuzweg-Stationen aus. Großsammler Peter Ludwig war angetan und erwarb den Zyklus; er ist auch im Rahmen dieser Werkschau zu sehen. Dass Ayóns Deutschland-Premiere in einem Gotteshaus stattfand, ist weniger verwunderlich als es scheint: Manche Sujets und Symbole von Abakuá sind der christlichen Ikonographie entlehnt, etwa das Kreuz.

 

Fischfang mündet in Patriarchat

 

Die wichtigsten Mythen und Figuren sind jedoch afrikanischen Ursprungs. Wie der höchste Gott Abasí, Mokongo als der höchste Vertreter irdischer Macht und der heilige Fisch Tanze; sein Klang verhilft zu Glück und Wohlstand. Mit ihm ist eine zentrale Legende verbunden: Als die Prinzessin Sikán am Fluss Wasser holte, schwamm der Tanze-Fisch in ihre Kalebasse. Zwei Männer erschreckten sie; Sikán ließ die Kalebasse fallen, die zerbrach, so dass der Fisch starb. Die Männer hofften, sein Klang sei an Sikáns Haut hängengeblieben, opferten sie und fertigten aus ihrer Haut eine Trommel – vergeblich: Der heilige Klang war verstummt.

 

Als einzige Frau im männerdominierten Abakuá-Götterhimmel war sie für die Künstlerin von großer Bedeutung. Häufig steht oder sitzt Sikán in der Bildmitte, begleitet von ihrem Verlobten Mokondo und Attributen wie dem Tanze-Fisch, einer schützenden Schlange oder einer Ziege als Opfertier; solche Darstellungen erinnern an christliche Heiligenbilder. Dem misogynen Zug des Mythos hat Ayón 1988 einer ihrer wenigen farbigen Bilder gewidmet: „La pesca“ („Das Angeln“, 1988) zeigt in der Draufsicht, wie ein Mann im Kanu sich zu dem einer Frau hinüberbeugt und ihre Fracht an sich rafft – die Entstehung des Patriarchats beim Fischfang.

 

Damit Du mich für immer liebst

 

Weitaus komplexer sind Szenen, die bestimmte Abakuá-Riten thematisieren. „Nlloro“ von 1991 stellt eine Beerdigung dar: Unten liegt der weiße Leichnam. Links hält ein Priester Zepter und Trommel; er hat die graphischen Anaforuana-Symbole gezeichnet. Mit ihnen ist der halbrechts stehende, schwarze Anamangüi-Geist bedeckt, der den Verstorbenen in den Himmel geleiten wird. Auf „Perfidia“ (1998) schlägt rechts ein Obón-Würdenträger eine Handtrommel; vor ihm reicht hält ein Wahrsager einen Hahn als Opfertier. Links steht Sikán in doppelter Gestalt und mit Fischschuppen bedeckt; sie harrt ihrer Opferung.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der "59. Biennale Venedig: The Milk of Dreams" mit u.a. einer Hommage an Belkis Ayón

 

und hier eine Besprechung der "10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst" in der Akademie der Künste und anderen Ausstellungsorten in Berlin mit Werken von Belkis Ayón

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Kunst aus Nigeria: Uche Okeke + Nsukka School" - erste deutsche Retrospektive des bedeutenden zeitgenössischen Künstlers und seiner Schule im Iwalewahaus, Bayreuth

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Solch ungeahnte Tiefen – This undreamt descent" – beeindruckende Retrospektive der kenianischen Künstlerin Wangechi Mutu in der Kunsthalle Baden-Baden

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Voodoo" - hervorragender Überblick über die synkretistische afroamerikanische Religion im Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim.

 

Welch enormen Stellenwert die legendäre Prinzessin für die Künstlerin hatte, macht die mehr als vier Meter hohe Druckgrafik „Pa’ que me quieras por siempre“ („Damit Du mich für immer liebst“) deutlich. Die Arbeit ist zweigeteilt. Gläubige Männer im unteren, irdischen Bereich beten eine imposante Sikán-Figur oben im Firmament an; ihre weiße Haut steht für den Tod, ihre gefiederten sechs Arme für ihre Himmelfahrt. Ayón zeigte das Werk 1993 auf der 45. Biennale in Venedig; um dorthin zu reisen, musste sie zunächst 30 Kilometer auf ihrem Fahrrad von ihrer Wohnung zum Flughafen von Havanna fahren.

 

Fremden geistigen Kosmos vor Augen

 

Daher griffe es zu kurz, ihr Werk als weltabgewandte Sakralkunst zu betrachten; vieles verweist sehr diesseitig auf die „Sonderperiode“ in den 1990er Jahren, als Kuba durch den Zusammenbruch des Ostblocks seinen internationalen Rückhalt verloren hatte. Auf diese Krisenerfahrung spielt etwa „Desobediencia“ („Ungehorsam“, 1998) an, ein schwer zu entschlüsselndes Getümmel von Gestalten. Ihr letzter Zyklus entstand 1997 bis 1999; die durchweg kreisrunden Bilder tragen Titel wie „Acoso“ („Verfolgung“) oder „Temores infundados“ („unbegründete Ängste“). Offenbar gewannen sie dennoch Oberhand.

 

23 Jahre nach ihrem Freitod beeindruckt Ayóns Formensprache unvermindert; nicht nur wegen der monumentalen Formate oder dem filigranen Linienspiel der Muster, die ihre Bildräume strukturieren. Der Künstlerin ist es gelungen, den geistigen Kosmos einer fremden Glaubensrichtung westlichen Betrachtern vor Augen zu führen, ohne ihn zu trivialisieren oder an geläufige Sehgewohnheiten anzupassen. Nein: Sie belässt ihn in seiner verstörenden Andersartigkeit, doch zeigt zugleich das universell Menschliche darin auf. Damit trägt ihr Werk mehr zur interkulturellen Verständigung bei als alle Raubkunst-Restitutions-Aktivisten unserer Tage.