
Ein Star der frühen Bundesrepublik: Außer in seiner langjährigen Wahlheimat Frankreich, wo er als Höhepunkt seines Schaffens 1963 das monumentale Deckengemälde der Pariser Opéra Garnier entwarf, und in Israel, wo er 1931 an der Gründung des Tel Aviv Museum of Art teilnahm und 1954 ihm zu Ehren ein Künstlerhaus in Haifa errichtet wurde, ist Marc Chagall (1887-1985) wohl nirgendwo so beliebt wie hierzulande.
Info
Chagall – Welt in Aufruhr
04.11.2022 - 19.02.2023
täglich außer montags
10 bis 19 Uhr,
mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr
ab 13.1. auch freitags + samstags
bis 22 Uhr in der Schirn Kunsthalle,
Römerberg, Frankfurt am Main
Katalog 35 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Absolution in Arztpraxen
Doch „auserkoren zum Lieblingsmaler der Deutschen, bot er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen heiteren Motiven ungewollt eine Projektionsfläche für den Wunsch der Deutschen nach Absolution. Seine farbenfrohen Bilder mit den Blumen, den Clowns, den frei schwebenden Bräuten waren in Wohnzimmern und Arztpraxen fast omnipräsent“, hieß es treffend im Infotext für die Schau „Verehrt und verfemt – Chagall in Deutschland“, die 2004 im Jüdischen Museum Frankfurt und dem Berliner Max-Liebermann-Haus gezeigt wurde.
Feature über die Ausstellung: © Schirn Kunsthalle
Bereits mehr als 100.000 Besucher
Beide Häuser wollten das schon damals korrigieren, 2013 dann das Jewish Museum von New York mit „Chagall. Love, War, and Exile“. Aber diese kleinen Spezialmuseen erreichten nur eine begrenzte Klientel. Nun breitet die Schirn Kunsthalle die vermeintlich dunkle Seite des Malers vor dem breiten Publikum aus. Und der Mythos Chagall zieht noch immer: Mehr als 100.000 Besucher haben seine „Welt in Aufruhr“ bereits gesehen – wenn sie etwas zu sehen bekamen. Die eher schmale Präsentation von rund 60 Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen verschwindet fast hinter Massen von Schaulustigen.
Zudem erscheint bei etlichen Exponaten fraglich, ob sie die These bestätigen, Chagall habe in seinen Werken der 1930/40er Jahre auf die Umwälzungen der Epoche reagiert. Bei einem Gemälde ist das sicherlich so – deshalb steht es prominent am Anfang: „Einsamkeit“ von 1933 zeigt links einen Juden mit Thora-Rolle in Melancholia-Haltung. Rechts spielt eine Kuh Geige, über ihr fliegt ein Engel empor. Rauchschwaden umwölken eine Kleinstadt, vielleicht Chagalls Geburtsort Witebsk. Kein Zweifel: Von Lebensfreude keine Spur.
Kreuzigung eines Juden-Jesus
Das gilt aber kaum für andere Bilder aus dem gleichen Zeitraum. Veduten und Landschaften, die Chagall auf seiner Reise durch Palästina 1931 festhielt, wirken so dokumentarisch neutral wie seine Interieurs von Synagogen. Sie dienten zur Vorbereitung von geplanten Illustrationen für die Heilige Schrift wie Bibelväter-Porträts auf Papier. Verspielte Ansichten von Paris oder dem Cranberry Lake im Bundesstaat New York – Chagall und seine Frau Bella waren 1941 in die USA geflohen – thematisieren ihre Ortswechsel, aber nicht deren bedrohliche Auslöser.
Anders verhält es sich gewiss bei diversen Kreuzigungs-Szenen: Indem Chagall Jesus stets mit Tallit-Gebetsschal und Tefillin-Gebetsriemen als Juden kennzeichnet, verweist sein individuelles Martyrium zugleich auf die Katastrophe des jüdischen Volkes. Kaum glaublich, dass solche Symbole für die ethnisch-religiöse Dualität des Erlösers vor 80 Jahren noch heftige Diskussionen auslösten. Ebenso eindeutig künden Kompositionen wie „Krieg“ oder „Besessenheit“ (beide 1943) mit durcheinander trudelnden Figuren von einer Welt, die aus den Fugen geraten war.
Seltsam deplatzierte Ballett-Entwürfe
Bei „Engelsturz“, einem Hauptwerk Chagalls, muss die Deutung aber arge argumentative Verrenkungen machen. Es existiert in drei Versionen – die erste nur als Gouche von 1923, die bereits die beiden wichtigsten Elemente enthält: den kopfüber fallenden Himmelsboten und einen fliehenden Thora-Träger. In der großformatigen Endfassung von 1947 stürzt der nun rote Engel mit aufgerissenen Augen und offenem Mund herab – das sei Ausdruck seines Erschreckens über die Shoah, interpretiert Kuratorin Ilka Voermann. Mag sein.
Keinerlei Bezug zu Gewalt und Vernichtung – oder höchstens den eines erleichterten Aufatmens nach überstandenem Schrecken – haben die Bühnenbilder und Kostüme, die der Künstler für zwei Ballettinszenierungen in Amerika entwarf. 1942 wird an der Metropolitan Opera in New York „Aleko“ zu Musik von Tschaikowski, drei Jahre später „Der Feuervogel“ von Igor Strawinsky aufgeführt. Chagalls Beiträge dazu füllen einen ganzen Saal; im Rahmen des Ausstellungskonzepts wirken sie seltsam deplatziert.
Malerische Unglücks-Chiffren
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Jahrhundertzeichen – Tel Aviv Museum of Art visits Berlin" mit Werken von Marc Chagall im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Der Sturm – Zentrum der Avantgarde", 1914 Ort der ersten Einzelschau von Marc Chagall, im Von der Heydt-Museum, Wuppertal
und hier einen Beitrag über die Wiedereröffnung 2011 des "Felix-Nussbaum-Hauses" in Osnabrück für das Werk des 1944 in Auschwitz ermordeten Künstlers
und hier einen Bericht über die "Neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin" mit zeitgenössischer Kunst aus Israel im JMB, Berlin.
Doch die analytische Schärfe und Direktheit, die gleichzeitig entstandene Arbeiten vieler Kollegen – etwa von Otto Dix oder Felix Nussbaum – auszeichnen, finden sich bei Chagall nirgends. Er war ein eher unpolitischer Kopf, der es bei malerischen Chiffren für Unglück beließ und in ethisch-religiösen Kategorien dachte. Das machte seinen Bilder-Kosmos nach 1945 für deutsche Kunstfreunde so attraktiv: Wehklagen über universelles Unheil erleichterte das Verdrängen konkreter Verbrechen.
Souvenir-Verkauf läuft gut
Mittlerweile hat sich der Zeitgeist völlig verändert: Statt Eskapismus in verspielten Märchenwelten herrscht rituelle Beschwörung grauenhafter Anschauung vor. Zu dieser Form von NS-Vergangenheitsbewältigung kann Chagall nichts beitragen; deshalb dürfte auch diese Ausstellung keine Renaissance seiner Rezeption einleiten. Doch seine Fan-Gemeinde bleibt groß: Der Souvenirstand am Schirn-Eingang ist gut bestückt und stets umlagert.