Frankfurt am Main

Chagall – Welt in Aufruhr

Marc Chagall: Der schwarze Handschuh (Detail), 1923–1948, Öl, Tempera und Tusche auf Leinwand, 111 x 81,5 cm, Privatsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Foto: Archives Marc et Ida Chagall
Shtetl als Karneval der Lebenslust: Mit fliegenden Bräuten, Kühen und Clowns half Marc Chagall den Deutschen, nach 1945 den Holocaust zu bewältigen. Nun präsentiert die Schirn ihn mit Bildern der 1930/40er Jahre als hellsichtigen Beobachter der Epoche – diese Deutung überzeugt nur teilweise.

Ein früher Star der Bundesrepublik: Außer in seiner langjährigen Wahlheimat Frankreich, wo er als Höhepunkt seines Schaffens 1963 das monumentale Deckengemälde der Pariser Opéra Garnier entwarf, und in Israel, wo er 1931 an der Gründung des Tel Aviv Museum of Art teilnahm und 1954 ihm zu Ehren ein Künstlerhaus in Haifa errichtet wurde, ist Marc Chagall (1887-1985) wohl nirgendwo so beliebt wie hierzulande.

 

Info

 

Chagall – Welt in Aufruhr

 

04.11.2022 - 19.02.2023

täglich außer montags

10 bis 19 Uhr,

mittwochs + donnerstags bis 22 Uhr

ab 13.1. auch freitags + samstags
bis 22 Uhr in der Schirn Kunsthalle,
Römerberg, Frankfurt am Main

 

Katalog 35 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Seine Popularität wuchs in der Nachkriegszeit aus Sehnsucht nach Wiedergutmachung. Chagalls jüdische Motive in naiv-bunter Manier führten das Dasein im osteuropäischen Shtetl vor Augen, dessen jiddische Kultur wenige Jahre zuvor von deutschen Besatzern unwiderruflich ausgelöscht worden war. Aber er hielt nicht Armut und Rückständigkeit fest, sondern einen lebenslustigen Karneval voller drolliger Schläfchenlocken-Träger, kulleräugiger Frauen und niedlicher Tiere. Obwohl Chagall bereits 1922 Russland für immer verlassen hatte.

 

Absolution in Arztpraxen

 

Doch „auserkoren zum Lieblingsmaler der Deutschen, bot er nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen heiteren Motiven ungewollt eine Projektionsfläche für den Wunsch der Deutschen nach Absolution. Seine farbenfrohen Bilder mit den Blumen, den Clowns, den frei schwebenden Bräuten waren in Wohnzimmern und Arztpraxen fast omnipräsent“, hieß es treffend im Infotext für die Schau „Verehrt und verfemt – Chagall in Deutschland“, die 2004 im Jüdischen Museum Frankfurt und dem Berliner Max-Liebermann-Haus gezeigt wurde.

Feature über die Ausstellung: © Schirn Kunsthalle


 

Bereits mehr als 100.000 Besucher

 

Beide Häuser wollten das schon damals korrigieren, 2013 dann das Jewish Museum von New York mit „Chagall. Love, War, and Exile“. Aber diese kleinen Spezialmuseen erreichten nur eine begrenzte Klientel. Nun breitet die Schirn Kunsthalle die vermeintlich dunkle Seite des Malers vor dem breiten Publikum aus. Und der Mythos Chagall zieht noch immer: Mehr als 100.000 Besucher haben seine „Welt in Aufruhr“ bereits gesehen – wenn sie etwas zu sehen bekamen. Die eher schmale Präsentation von rund 60 Gemälden, Papierarbeiten und Kostümen verschwindet fast hinter Massen von Schaulustigen.

 

Zudem erscheint bei etlichen Exponaten fraglich, ob sie die These bestätigen, Chagall habe in seinen Werken der 1930/40er Jahre auf die Umwälzungen der Epoche reagiert. Bei einem Gemälde ist das sicherlich so – deshalb steht es prominent am Anfang: „Einsamkeit“ von 1933 zeigt links einen Juden mit Thora-Rolle in Melancholia-Haltung. Rechts spielt eine Kuh Geige, über ihr fliegt ein Engel empor. Rauchschwaden umwölken eine Kleinstadt, vielleicht Chagalls Geburtsort Witebsk. Kein Zweifel: Von Lebensfreude keine Spur.

 

Kreuzigung eines Juden-Jesus

 

Das gilt aber kaum für andere Bilder aus dem gleichen Zeitraum. Veduten und Landschaften, die Chagall auf seiner Reise durch Palästina 1931 festhielt, wirken so dokumentarisch neutral wie seine Interieurs von Synagogen. Sie dienten zur Vorbereitung von geplanten Illustrationen für die Heilige Schrift wie Bibelväter-Porträts auf Papier. Verspielte Ansichten von Paris oder dem Cranberry Lake im Bundesstaat New York – Chagall und seine Frau Bella waren 1941 in die USA geflohen – thematisieren ihre Ortswechsel, aber nicht deren bedrohliche Auslöser.

 

Anders verhält es sich gewiss bei diversen Kreuzigungs-Szenen: Indem Chagall Jesus stets mit Tallit-Gebetsschal und Tefillin-Gebetsriemen als Juden kennzeichnet, verweist sein individuelles Martyrium zugleich auf die Katastrophe des jüdischen Volkes. Kaum glaublich, dass solche Symbole für die ethnisch-religiöse Dualität des Erlösers vor 80 Jahren noch heftige Diskussionen auslösten. Ebenso eindeutig künden Kompositionen wie „Krieg“ oder „Besessenheit“ (beide 1943) mit durcheinander trudelnden Figuren von einer Welt, die aus den Fugen geraten war.

 

Seltsam deplatzierte Ballett-Entwürfe

 

Bei „Engelsturz“, einem Hauptwerk Chagalls, muss die Deutung aber arge argumentative Verrenkungen machen. Es existiert in drei Versionen – die erste nur als Gouche von 1923, die bereits die beiden wichtigsten Elemente enthält: den kopfüber fallenden Himmelsboten und einen fliehenden Thora-Träger. In der großformatigen Endfassung von 1947 stürzt der nun rote Engel mit aufgerissenen Augen und offenem Mund herab – das sei Ausdruck seines Erschreckens über die Shoah, interpretiert Kuratorin Ilka Voermann. Mag sein.

 

Keinerlei Bezug zu Gewalt und Vernichtung – oder höchstens den eines erleichterten Aufatmens nach überstandenem Schrecken – haben die Bühnenbilder und Kostüme, die der Künstler für zwei Ballettinszenierungen in Amerika entwarf. 1942 wird an der Metropolitan Opera in New York „Aleko“ zu Musik von Tschaikowski, drei Jahre später „Der Feuervogel“ von Igor Strawinsky  aufgeführt. Chagalls Beiträge dazu füllen einen ganzen Saal; im Rahmen des Ausstellungskonzepts wirken sie seltsam deplatziert.

 

Malerische Unglücks-Chiffren

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Jahrhundertzeichen – Tel Aviv Museum of Art visits Berlin" mit Werken von Marc Chagall im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Der Sturm – Zentrum der Avantgarde", 1914 Ort der ersten Einzelschau von Marc Chagall, im Von der Heydt-Museum, Wuppertal

 

und hier einen Beitrag über die Wiedereröffnung 2011 des "Felix-Nussbaum-Hauses" in Osnabrück für das Werk des 1944 in Auschwitz ermordeten Künstlers

 

und hier einen Bericht über die "Neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin" mit zeitgenössischer Kunst aus Israel im JMB, Berlin.

 

Zum Ausklang bietet die Schau noch ein Potpourri auf, bei dem eher düstere Visionen wie „Die Seele der Stadt“ (1945) mit gängiger Dekoware an der Kitschgrenze wie „Die Kuh mit dem Sonnenschirm“ (1946) kontrastieren. So gemischt wie diese Zusammenstellung sind auch die Eindrücke, mit denen der Betrachter entlassen wird. Gewiss: Auch Chagall schuf in den 1930/40er Jahren Gemälde, die auf das desaströse Weltgeschehen reagierten. Alles andere wäre bei einem jüdischen Künstler, der in diesen Dekaden mehrfach emigrieren musste, höchst merkwürdig.

 

Doch die analytische Schärfe und Direktheit, die gleichzeitig entstandene Arbeiten vieler Kollegen – etwa von Otto Dix oder Felix Nussbaum – auszeichnen, finden sich bei Chagall nirgends. Er war ein eher unpolitischer Kopf, der es bei malerischen Chiffren für Unglück beließ und in ethisch-religiösen Kategorien dachte. Das machte seinen Bilder-Kosmos nach 1945 für deutsche Kunstfreunde so attraktiv: Wehklagen über universelles Unheil erleichterte das Verdrängen konkreter Verbrechen.

 

Souvenir-Verkauf läuft gut

 

Mittlerweile hat sich der Zeitgeist völlig verändert: Statt Eskapismus in verspielten Märchenwelten herrscht rituelle Beschwörung grauenhafter Anschauung vor. Zu dieser Form von NS-Vergangenheitsbewältigung kann Chagall nichts beitragen; deshalb dürfte auch diese Ausstellung keine Renaissance seiner Rezeption einleiten. Doch seine Fan-Gemeinde bleibt groß: Der Souvenirstand am Schirn-Eingang ist gut bestückt und stets umlagert.