“Der Staub des modernen Lebens” ist eigentlich ein viel zu pathetischer Titel für diesen schlichten, aber aufschlussreichen Dokumentarfilm über die ethnische Minderheit der Sedang. Ihre rund 200.000 Angehörigen siedeln in der Provinz Kon Tum im gebirgigen Hinterland von Mittelvietnam; modernes Leben findet sich dort nur in Spurenelementen.
Info
The Dust of Modern Life
Regie: Franziska von Stenglin,
82 Min., Vietnam/ Deutschland/ Frankreich 2021;
mit: A Liêm, A Dun, A Sang, A Giáo
Weitere Informationen zum Film
Mit Bambusfallen GIs aufspießen
Sowie beim gemeinsamen Abendessen vor dem Fernseher, in dem alte Propaganda-Filme aus der Zeit des Vietnamkriegs bis 1975 laufen. Eine Vietcong-Kämpferin besingt, wie geschickt sie Bambusstäbe anspitzt, um daraus Fallen zu bauen, mit denen US-Soldaten aufgespießt werden. Reminiszenzen an den Krieg sind noch sehr gegenwärtig: Am Ende wird Liêm – der zu jung ist, um ihn miterlebt zu haben – mit seinen Kameraden alte Partisanenlieder über die Befreiung der Heimat und „Onkel Ho“ (Ho Chi Minh) anstimmen.
Offizieller Filmtrailer
Gymnastik zum Freiluft-Lautsprecher
Vom Dorfleben ist vor allem ein Fest im Gemeinschaftshaus zu sehen. Es beginnt mit dem Schlachten eines Schweins, das naturalistisch in allen Details gezeigt wird. Danach wird eine Grußbotschaft – offenbar von einer KP-Parteigliederung – verlesen, die keinen so recht interessiert. Anschließend beginnt der amüsante Teil: Zur Billigdisco-Version von „Mambo italiano“ imitieren sechs junge Frauen Choreographien, die ihnen Gogo-Boys auf Video-Monitoren vortanzen – gesponsert von einem Mobilfunk-Anbieter. Das folgende Trink- und Tanzvergnügen für alle dauert bis spät in die Nacht.
Nüchterner sind die Radio-Durchsagen aus dem Freiluft-Lautsprecher in der Ortsmitte. Sie beginnen morgens mit Anleitungen zur Frühgymnastik. Später folgen Schulfunk etwa zur Bedeutung des Internets, Werbespots für Geschirrspülmittel, Nachrichten wie zum Stand der Brexit-Verhandlungen und Wirtschaftsmeldungen: Die Zara-Filiale in Ho-Chi-Minh-Stadt sei die umsatzstärkste der Welt. All das wirkt in diesem Reisbauerndorf so fern wie der Mond.
Pfadfinder-Ausflug mit Basislager-Zelt
Hinter dem seine Einwohner nicht leben: Sie tragen Sweat- und T-Shirts, fahren Mopeds und besitzen Smartphones – die sie jedoch scheinbar nur als Musik-Abspielgeräte benutzen, wie früher Kofferradios. Mehr Staub des modernen Lebens ist nicht zu sehen. Doch nach einer halben Stunde lässt Liêm das Dorf hinter sich, um mit drei Freunden mehrere Tage lang die nahen Berghänge zu durchstreifen. Eine spirituelle Motivation für die alljährliche Tour nennt er nicht, eher eine Art Traditionspflege. Er habe dabei von seinem Vater gelernt, wie man im Urwald überlebt und sich ernährt, sagt Liêm: Dieses Wissen wolle er weitergeben, damit es nicht in Vergessenheit gerät.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Stimme des Regenwaldes – Die wahre Geschichte von Bruno Manser" - Dokudrama über im Borneo-Urwald lebenden Schweizer von Niklaus Hilber
und hier eine Besprechung des Films "Onoda – 10.000 Nächte im Dschungel" - grandioses Psychogramm eines 29 Jahre weiterkämpfenden japanischen Weltkriegs-Soldaten von Arthur Harari
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schätze der Archäologie Vietnams" - erste deutsche und großartig gelungene Überblicksschau in Chemnitz + Mannheim
und hier einen Bericht über den Film "Apocalypse Now – Final Cut (WA)" – Neufassung des besten Kriegsfilms aller Zeiten im Dschungel von Vietnam von Francis Ford Coppola.
Geräuschmauer der Urwaldfauna
Ob die gegrillten Nagetiere und gekochten Amphibien tatsächlich so gut schmecken, wie Liêm behauptet, sei dahingestellt. Besser munden die Dschungel-Impressionen, die Regisseurin Franziska von Stenglin auf 16-Millimeter-Film einfängt: Gerade weil die Bilder grobkörnig und leicht unscharf sind, belassen sie dieser so üppig wuchernden wie unwirtlichen Umgebung ihre fremdartige Faszination.
Dazu trägt auch das exotische Klangbild bei: Durch Dynamikwechsel wird das dauernde Hintergrundsummen der Urwaldfauna plötzlich zur undurchdringlichen Geräuschmauer. Dann genügt schon ein simpler Rundschwenk über die Baumkronen, um Sinnesreize aus einem völlig fremden Kosmos zu bieten. In dieser Bescheidung auf elementare Eindrücke liegt die Stärke des Films – nicht interpretieren und argumentieren, sondern einfach zeigen, was ist. In unserer von manipulierten Bildergewittern geprägten Lebenswelt ist das schon viel.