Elwira Niewiera + Piotr Rosołowski

Das Hamlet Syndrom

Slavik auf der Bühne. Foto: © Copyright: Kundschafter Filmproduktion
(Kinostart: 19.1.) Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Das Regie-Duo Elwira Niewiera + Piotr Rosołowski porträtiert fünf junge Ukrainer, deren Leben schon beim russischen Angriff 2014 auf den Kopf gestellt wurde. Der Film entstand vor dem jüngsten Krieg – und zeigt, welche Traumata er hinterlassen wird.

Seit fast einem Jahr dominieren in den Nachrichten Berichte über den Krieg in der Ukraine. Filme von dort haben aber allenfalls auf Festivals eine Chance, ihr Publikum zu finden. „Das Hamlet-Syndrom“ des polnischen Regieduos Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski gewann den Großen Preis bei der „Semaine de la critique“ der Festspiele in Locarno und erlebte seine Deutschland-Premiere beim „DOK Leipzig“-Festival. Tatsächlich ist der Film äußerst aktuell, obwohl er bereits Ende 2021 fertig gestellt worden ist, also vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022.

 

Info

 

Das Hamlet Syndrom 

 

Regie: Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski,

85 Min., Polen/ Deutschland 2022;

mit: Slavik Gavianets, Katia Kotliarova, Roman Kryvdyk 

 

Weitere Informationen zum Film

 

Ursprünglich sollte es darum gehen, wie junge Ukrainer ihre Erlebnisse in der ersten Kriegsphase bewältigen, als ab 2014 Freischärler den Donbass besetzten und Russland die Krim annektierte. Dass sie Menschen in Umbruchsituationen feinfühlig porträtieren können, hat das Regie-Duo in den Filmen „Domino Effekt“ (2015) über die abtrünnige georgische Provinz Abchasien und „Der Prinz und der Dybbuk“ (2018) über einen russischen Juden als italienischen Filmproduzenten bewiesen.

 

Dänen-Prinz als Projektionsfläche

 

Für „Das Hamlet Syndrom“ wählten beide einen anderen Ansatz. Sie suchten nach jungen Ukrainern, die bereit waren, sich einer Therapie zu unterziehen und ein Theaterstück zu erarbeiten, das sich an Shakespeares „Hamlet“ anlehnt. Der dänische Prinz sollte als Projektionsfläche dienen, um über eigene Erfahrungen und Traumata zu sprechen. Wie er mussten sich die zwei Frauen und drei Männer 2014 zwischen Sein oder Nichtsein, Handeln oder Nichthandeln entscheiden. Und wie Hamlet grübeln alle Protagonisten bis heute, ob ihre Entscheidungen richtig waren.

Offizieller Filmtrailer


 

Drei Kämpfer + zwei Zivilisten

 

Die Schauspielerin und politisch aktive Feministin Oksana will schon länger nach Polen auswandern, weil sie dort bessere Berufschancen hat. Die ebenso 34 Jahre alte Katya trat zu Kriegsbeginn einem Freiwilligen-Bataillon bei und kämpfte eineinhalb Jahre lang an der Front. Der 30-jährige Slawik unterbrach sein Studium und ging gleichfalls freiwillig zur Armee. Der 36-jährige Roman wurde 2015 einberufen und war 18 Monate als Frontsanitäter tätig. Mit 27 ist der Kostümdesigner Rodion der jüngste in der Gruppe. Er beteiligte sich an Protesten in Donezk und floh nach Kiew, nachdem die Lage dort für ihn als offen schwul lebender Mann zu gefährlich wurde.

 

Mit diesen fünf unterschiedlichen Personen will die Theaterregisseurin Rosa Sarkissian in 40 Tagen ein Bühnenstück erarbeiten. Grundlage sollen für sie einschneidende Erlebnisse und existentielle Entscheidungen sein. Darüber zu sprechen, fällt allen nicht leicht; zu tief reichen ihre unsichtbaren Wunden, die im geschützten Theaterraum wieder aufbrechen. Katya erzählt, wie sie als Frau an der Front ständig fürchten und darauf vorbereitet sein musste, den Feinden in die Hände zu fallen.

 

Unter Schutt begraben + gefoltert

 

Slawik wurde bei einem Angriff unter mehreren Stockwerken von Schutt begraben und danach in Kriegsgefangenschaft gefoltert. Nur durch die Beharrlichkeit seines Vaters, der ihn daraus befreien konnte, ist er heute noch am Leben. Als Sanitäter hat Roman viel zu viel Schmerz und Tod gesehen; er leidet bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ihn bei der Arbeit am Stück immer wieder an Grenzen des Erträglichen bringt.

 

Rodion kämpft als LGBTQ-Aktivist täglich um Anerkennung als derjenige Mensch, der er ist. Als Außenseiter kann er auf der Bühne endlich herausschreien, was ihm schon lange auf der Seele brennt; das bewirkt auch bei einigen seiner Mitstreiter ein Umdenken. Dagegen kann sich die Feministin Oksana nur schwer in die Gruppe integrieren. Sie hat das Kriegsgeschehen nicht hautnah miterlebt, sondern immer nur versucht, mit künstlerischer Arbeit etwas zu beeinflussen.

 

Alltagsbeobachtung zwischen Nähe + Distanz

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Prinz und der Dybbuk" – fesselndes Doku-Porträt eines polnisch-italienischen Kinomoguls von Elwira Niewiera + Piotr Rosołowski 

 

und hier eine Besprechung des Films "Rhino" – Porträt eines ukrainischen Kleingangsters von Oleg Senzow

 

und hier einen Beitrag über den Film "Donbass" – bewegendes Episoden-Drama über den Krieg seit 2014 in der Ost-Ukraine von Sergei Loznitsa

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "The Ukrainians" – aktuelle ukrainische Protest-Kunst in der daadgalerie, Berlin.

 

Niewara und Rosołowski fangen die Gruppendynamik und die Veränderungen, denen alle während der Proben unterliegen, mit direkten, ungeschönten Bildern ein. Dabei wahren sie stets ein angemessenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz, und schaffen dadurch eine gewisse Vertrautheit zwischen Protagonisten und Publikum. Auch wenn sie die Fünf in ihrem Alltag außerhalb der Probensituation begleiten, ist das nie voyeuristisch, sondern eher teilnehmende Beobachtung.

 

So interviewt Katya, die für ein „Zentrum zur Dokumentation von Kriegsverbrechen“ tätig ist, eine Frau zu ihren erschütternden Erlebnissen; dabei muss sie das Gespräch unterbrechen, weil sie von ihren eigenen Erinnerungen eingeholt wird. Das mitzuerleben, geht dem Zuschauer sehr nahe; auch weil klar ist, dass sich die hier angesprochenen Traumatisierungen zurzeit andernorts – vielleicht noch viel schlimmer – wiederholen.

 

Wofür im Leben kämpfen?

 

Irgendwann sagt Theaterregisseurin Sarkissian zu ihren Darstellern: „Ich möchte durch euch verstehen, wofür wir heute im Leben kämpfen.“ Das war zum Zeitpunkt der Aufnahme noch anders gemeint, hat aber nun umso mehr Gewicht: Vom seit Februar 2022 entbrannten Krieg werden auch die sehr persönlichen Errungenschaften und Fortschritte, die dieser Film dokumentiert, wieder zunichte gemacht.