Bereits die ersten Minuten machen deutlich: In dem Land, wo sich die geschilderten Morde zutrugen, hätte dieser Film kaum entstehen können – obwohl der im Iran aufgewachsene Regisseur Ali Abbasi, der in Dänemark lebt, eigentlich in seiner Heimat drehen wollte. Doch er bekam dort keine Genehmigung.
Info
Holy Spider
Regie: Ali Abbasi,
117 Min., Jordanien/ Schweden/ Dänemark/ Frankreich 2022;
mit: Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani, Arash Ashtiani, Sara Fazilat
Weitere Informationen zum Film
Vom Kinderbett zum Straßenstrich
Am Anfang steht eine Frau mit freiem Oberkörper vor dem Spiegel; auf ihrem Rücken sind blaue Flecken zu sehen. Sie bereitet sich auf ihre Nachtschicht auf dem Straßenstrich vor, zuerst verabschiedet sie sich zärtlich von ihrem Kind. Auf einer öffentlichen Toilette wechselt sie in hochhackige Schuhe und zieht eine Haarsträhne unter ihrem Kopftuch hervor.
Offizieller Filmtrailer
Film-noir-Atmosphäre in Amman
Nach dem ersten Freier des Abends, der sie äußerst gewalttätig behandelt, raucht sie Opium. Dann wird sie von Saeed (Mehdi Bajestani) mit nach Hause genommen. Dort erwürgt er sie aufs Brutalste – eine Szene, welche die Kamera so erbarmungslos einfängt wie Saeeds weitere Morde, die bald folgen. Dabei wird dem Zuschauer einiges zugemutet.
Parallel dazu reist die Teheraner Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) nach Maschhad, um über die Mordserie zu berichten. Obwohl von Anfang an die Identität des Täters klar ist, folgen die ersten zwei Drittel des Films einem klassischen Serienkiller-Script – wenn etwa der so genannte Spinnenmörder bei der Lokalzeitung anruft, um mit seinen Taten zu prahlen. Zudem sorgen kaltes Neonlicht, vermüllte Seitenstraßen und schummrige Hinterhöfe in Amman für eine unheilvolle Film-noir-Anmutung – auch wenn die Atmosphäre durchaus authentisch ist; in vielen Städten der Nahen und Mittleren Ostens sieht es so aus.
Ohne Angehörigen kein Hotelzimmer
Ein weiterer Genre-Topos ist die willensstarke Journalistin, die sich derart in den Fall verbeißt, dass sie selbst auf Tätersuche geht. Doch die ultrakonservative Stadt Maschhad ist besonders schwieriges Terrain. Hotelangestellte wollen Rahimi kein Zimmer geben, weil sie ohne männliche Angehörige unterwegs ist. Auch bei der ersten Recherche vor Ort läuft sie gegen Mauern. Die Polizei ermittelt halbherzig; die Opfer – allesamt Prostituierte, viele mit Drogenproblemen – haben keinerlei Fürsprecher.
Überdies scheint jeder in Maschhad zu wissen, dass Rahimi ihren früheren Redaktions-Job verlor, nachdem sie Übergriffe ihres Chefs zur Anzeige gebracht hat – eine Einladung für den schmierigen Polizeichef, ihr ebenfalls nachzusteigen. Ein Geistlicher will derweil verhindern, dass das Image der Stadt Schaden nimmt, die als „Herz des schiitischen Iran“ gilt und viele Touristen anlockt.
Die Stadt von Sünderinnen reinigen
Lediglich Sharifi (Arash Ashanti), ein etwas linkischer lokaler Reporter, unterstützt seine Kollegin aus der Hauptstadt. Der Journalist wurde von Saeed bereits kontaktiert, weil der sich dagegen verwehrt, Mörder genannt zu werden: Er betrachtet sich als jemanden, der den Willen Gottes ausführt und die Stadt „von Sünderinnen reinigt“. Gleichwohl wird er recht nuanciert porträtiert: als ein nach außen hin normal lebender, bisweilen liebevoller Familienvater. Er hadert vor allem damit, als Bauarbeiter bislang wenig aus seinem Dasein gemacht zu haben – manchmal rastet der Veteran des Irak-Iran-Kriegs (1980-1988) grundlos aus.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Border" – schwedischer Fantasy-Horror-Thriller von Ali Abbasi
und hier eine Besprechung des Films "Sun Children" - facettenreich einfühlsame Milieustudie über Straßenkinder in Teheran von Majid Majidi
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und hier einen Bericht über den Film "Teheran Tabu" - facettenreicher Animationsfilm über iranischen Alltag von Ali Soozandeh.
Ein Volksheld steht vor Gericht
In diesen Abgrund blickt man im letzten Drittel. Nachdem Rahimi mit vollem Körpereinsatz Saeeds Verhaftung erreicht hat – wobei das nicht unbedingt glaubwürdig wirkt – mutiert der Spinnenmörder zu einer Art Volksheld; konservative Kreise und Medien feiern seine Taten. Daher sagt er im Gerichtsverfahren bereitwillig aus und bleibt auch nach der Verkündung seines Todesurteils gelassen. Wer will schon einen heiligen Krieger hängen?
In den letzten Augenblicken kommt es allerdings zu einer weiteren Volte. Wie dieser Schluss zu deuten ist, bleibt das Geheimnis der Regisseurs – wie manche andere dramaturgische Entscheidung bei diesem finsteren Psychodrama über eine Gesellschaft, in der Frauenhass zur Norm geworden ist.