Albert Serra

Pacifiction

De Roller (Benoît Magimel, li) ist Hochkommissar der französischen Republik auf der Insel Tahiti in Französisch-Polynesien. Foto: © Filmgalerie 451
(Kinostart: 2.2.) "...am Ende gefällt mir die Vorstellung, dass es exotisch, künstlich und unglaubwürdig ist": So kommentiert der katalanische Regisseur Albert Serra sein Epos über eine unheimliche Bedrohung – dabei gelingt ihm eine atmosphärisch dichte Charakterstudie der Bewohner der französischen Tropen.

Es gibt Ärger im Paradies – und nicht zu knapp. Das glühende Abendrot über der Insel deutet es an, noch bevor der Film kaum mehr als seinen Titel verraten hat: Wenig später heißt es, ein U-Boot sei vor der Küste gesichtet worden. Und die Marinesoldaten unter der Führung eines rätselhaften Admirals (Marc Susini), die plötzlich im örtlichen Nachtclub von Tahiti auftauchen, bestärken das Gerücht: Frankreich soll in der Gegend neue Atomversuche planen. Zwischen 1966 und 1996 führte die französische Armee in Französisch-Polynesien knapp 200 solcher Tests durch.

 

Info

 

Pacifiction 

 

Regie: Albert Serra,

163 Min., Frankreich/ Spanien/ Deutschland/ Portugal 2022;

mit: Benoît Magimel, Pahoa Mahagafanau, Marc Susini, Matahi Pambrun

 

Weitere Informationen zum Film

 

Aber das ist nur eins der Probleme, mit denen sich der französische Hochkommissar De Roller (Benoît Magimel) in Albert Serras kunstvollem neuen Filmepos herumschlagen muss. Der Mann, der stets im weißem Anzug mit Hawaiihemd und orangefarbenen Espadrilles auftritt, regelt auch sonst so ziemlich alles, was auf Tahiti nicht mit rechten Dingen zugeht. Bei Tag oder Nacht, in der Bar oder auf dem Jetski – De Roller ist ein gewiefter Politiker im Dauereinsatz: Jede Begegnung ist eine Verhandlung, manchmal ein Verhör, aber immer ein genialer Akt der Selbstdarstellung zugleich.

 

Smalltalk im Night Club

 

Mal muss er den örtlichen Gemeindevorsteher beschwichtigen, um den Weg für ein neues Luxus-Casino zu ebnen; mal eine bekannte französische Schriftstellerin offiziell auf der Insel begrüßen. Dazwischen dreht er routiniert seine Runden am Strand und quer durchs Land, beginnt ein bisschen Detektiv zu spielen und führt immer wieder Smalltalk mit den Gästen und Tänzerinnen des ominösen Nachtclubs «Paradise Night», den sein Freund und Landsmann Morton (Sergi Lopez) betreibt.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Exotisch, künstlich und unglaubwürdig

 

„Pacifiction“ lässt die fast dreistündige Spielzeit langsam ablaufen – mit der schwülen Atmosphäre aus Verschwörung, Verrat und Intrigen, wie man sie aus Klassikern des Thriller-Genres kennt. Doch Serra vermeidet jeden Ansatz einer tiefgründigen Handlung oder auch nur den geringsten Einsatz von Action in seinem Film. Jedes Gespräch, dass De Roller führt, läuft ins Leere. Seine Ermittlungen führen zu nichts. Selbst sein nagelneuer weißer Dienstwagen bleibt heil – ein James Bond 2.0 ist Serras Mann ganz sicher nicht.

 

Vielmehr scheint der katalanische Regisseur seine flüchtigen narrativen Ansätze als Mittel zu nutzen, die politischen und gesellschaftlichen Spannungen in den postkolonialen Südsee-Paradiesen insgesamt zu erkunden: Ihn interessiert das große Ganze. „Der Film ist reine Fantasie“, erklärt Serra im Interview: „Er berührt das Politische, das Zeitgenössische, das Menschliche und die zwischenmenschlichen Beziehungen, aber am Ende gefällt mir die Vorstellung, dass es exotisch, künstlich und unglaubwürdig ist.“

 

Drifter zwischen den Tropen und Europa

 

Das in der Gegenwart angesiedelte Setting bedeutet für Serra eine Abkehr von der Vergangenheit. In den letzten Jahren hatte er sich vor allem mit einer Reihe ausschweifender Historienfilme auf der Leinwand hervorgetan: 2016 mit „Der Tod von Ludwig XIV.“ über den französischen Sonnenkönig und 2019 mit dem im 18. Jahrhundert spielenden Sittengemälde „Liberté“. Doch in seiner Verschmelzung von Sinnlichkeit, Körperlichkeit und tagträumerischem Surrealismus steht auch „Pacifiction“ voll und ganz im Einklang mit seinem bisherigen Werk.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Der Tod von Ludwig XIV." - Charakterstudie des französischen Sonnenkönigs mit Jean-Pierre Léaud von Albert Serra

 

und hier eine Besprechung des Films "Gauguin" - Biopic über den Maler, der durch zwei Tahiti-Reisen zum Klassiker der Moderne wurde, von Édouard Deluc

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Tanz der Ahnen - Kunst vom Sepik in Papua-Neuguinea" - grandiose Überblicks-Schau über polynesische Kunst in Berlin, Zürich + Paris.

 

Hauptdarsteller Benoît Magimel leistet Schwerstarbeit, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Sein Hochkommissar ist ein Drifter, der sich aus jeder Verankerung gelöst hat. Er gehört längst nicht mehr zur europäischen Welt, die er hinter sich gelassen hat. Aber wie sehr er sich auch anstrengt – in seiner neuen tropischen Heimat mag er sich verwurzelt fühlen, aber vollends akzeptieren wollen ihn die Einheimischen trotzdem nicht.

 

Schweben und die Kraft, sich treiben zu lassen

 

Die hypnotische Stimmung, die die Atmosphäre in Serras seltsamer, ungreifbarer Charakterstudie prägt, ist jedoch sein größter Cup. Unsicherheit und Paranoia verbreiten sich zunehmend und das Grauen zieht wie ein unsichtbarer Nebel über das Land – im Kontrast lebt „Pacifiction“ von den großartig komponierten Szenen und Landschaftsbildern, die sein langjähriger Kameramann Artur Tort mit wachsamen Augen fürs Detail einfängt.

 

Eine der atemberaubendsten Einstellungen zeigt, wie ein paar Boote eine Gruppe von Surfern weit weg von der Küste aufs Meer hinaus bringen, wo die schwindelerregend hohe Brandung alles Menschliche mit unberechenbarer Naturgewalt anhebt und trägt – und vielleicht zeigt sich in dieser Szene auch am ehesten, was „Pacifiction“ ist: ein Film über das Schweben und die Kraft, sich treiben zu lassen.