Charlotte Gainsbourg

Passagiere der Nacht

Mathias (Quito Rayon Richter), Judith (Megan Northam), Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) und Talulah (Noée Abita, v.l.n.r.) feiern zusammen. Foto: 2021 Nord-Ouest Films/ Arte
(Kino-Start: 5.1.) Alles auf Neuanfang: Nach Scheidung und Brustkrebs wird eine zweifache Mutter im Paris der 1980er Jahre zur Radio-Nighttalkerin. Sein sensibles Familiendrama über die Wechselfälle des Lebens arrangiert Regisseur Mikhaël Hers als stimmungsvolles Beziehungs-Patchwork.

Manchmal ist ein Film zuerst vor allem ein Gefühl, eine Stimmung oder ein Ort. Da genügt ein Schwenk der Kamera durch die nächtlichen Straßen von Paris. Ein Blick über die Dächer der schlaflosen Stadt. Oder ein Augenpaar, das sehnsüchtig auf einen U-Bahn-Plan schaut, dessen Liniennetz mit einem Klick zu leuchten beginnt; dazu ein paar Eckdaten und passende Musik. Mehr braucht der französische Regisseur Mikhaël Hers nicht, um das Paris der 1980er Jahre wiederzubeleben.

 

Info

 

Passagiere der Nacht

 

Regie: Mikhaël Hers,

111 Min., Frankreich 2022;

mit: Charlotte Gainsbourg, Emmanuelle Béart, Noée Abita

 

Weitere Informationen zum Film

 

Die Stadt und die Zeit sind neben einer Handvoll Figuren die fesselnden Hauptakteure in diesem Film. Er beginnt mit Doku-Archivaufnahmen von den Feiern zur Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum Präsidenten 1981.

 

Neuanfang im Jahr 1984

 

Drei Jahre später, die der Film mit einem kurzen Schnitt überspringt, lernen wir Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) kennen; ihr Leben steht plötzlich auf Neuanfang. Nach einer gescheiterten Ehe mit zwei Kindern und einer Brustkrebs-Erkrankung muss sie schnellstmöglich einen Job finden, um über die Runden zu kommen. Damit tut sie sich schwer.

Offizieller Filmtrailer


 

Whisky zum Vorstellungsgespräch

 

Etliche Jahre war sie nur Mutter; ihr Psychologie-Studium liegt lange zurück. Schließlich versucht sie es beim Radio, schreibt einen Brief an die Moderatorin der Nachtsendung, die sie regelmäßig hört – und bekommt eine Chance. Zunächst soll sie in der Telefonzentrale die nächtlichen Anrufe scannen und geeignete Talkgäste durchstellen. Wobei ihre Chefin (Emmanuelle Béart) hartgesotten ist und ihr schon zum Vorstellungsgespräch einen Whisky anbietet. Aber Elisabeth hat keine Wahl: Sie muss Geld verdienen, sich neu arrangieren – und vor allem Mut fassen, dass sie das alles kann.

 

Ihre beiden Kinder sind schon fast aus dem Haus und suchen selbst nach einem Lebensentwurf: Tochter Judith (Megan Northam) ist politisch engagiert, während ihr jüngerer Bruder Mathias (Quito Rayon Richter) dichtet und seine erste große Liebe auskostet. Doch in ihrem neuen Job als angehender Night-Talkerin läuft Elisabeth bald auch die junge Talulah (Noée Abita) über den Weg. Deren Leben steht aus anderen Gründen Kopf steht, darum hat sie jetzt keinen Schlafplatz mehr – also nimmt Elisabeth sie bei sich auf.

 

Panoramafenster-Wohnung als Zentrum

 

Der Film, den Regisseur Hers um diese Figurenkonstellation herum strickt, wirkt auf den ersten Blick so zerbrechlich wie Elisabeth selbst. „Passagiere der Nacht“ ist kein Drama, das große Worte macht oder um Aufmerksamkeit buhlt. Stattdessen verbindet Hers nonchalant Szenen und Stimmungen, Emotionen und Impressionen miteinander; sie formen sich im Laufe der übersichtlichen Handlung zu Lebensgeschichten und Beziehungen.

 

Im Mittelpunkt steht Charlotte Gainsbourg. Sie spielt ihre Figur, deren Dasein aus den Fugen geraten ist, mit einer Verbindlichkeit und Wahrheit, die sich nicht simulieren lässt. Das Zentrum der Handlung bildet jedoch die liebenswürdig chaotische Wohnung mit Panoramafenstern und einem wunderschönen Blick über Paris, in der ihre Familie lebt. Wie lange noch, ist ungewiss: Ihr Ex-Mann will ihr früheres gemeinsames Zuhause verkaufen. Doch im Film ist das geräumige Appartement Schauplatz, Treffpunkt, Anlaufstelle und Zufluchtsort zugleich.

 

Zwischen Lebenslust + Melancholie

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Mein Leben mit Amanda" - sensibles Drama über Beziehung zwischen Waisenkind und Onkel von Mikhaël Hers

 

und eine Besprechung des Films "Menschliche Dinge" - vielschichtiges Vergewaltigungs-Drama von Yvan Attal mit Charlotte Gainsbourg

 

und hier einen Bericht über den Film "Die Magnetischen" - wunderbar stimmiges Jugendkultur-Panorama Anfang der 1980er Jahre in Frankreich von Vincent Maël Cardona.

 

Ähnlich wie Hers’ letzter Film „Mein Leben mit Amanda“ (2019), der von Tod, Trauma und Trauerbewältigung handelte, ist „Passagiere der Nacht“ ein ruhiges, sympathisches Drama über eine Familie im Umbruch, in dem der Lauf der Dinge nie das Tempo vorgibt. Selbst wenn es mal brenzlig wird – weil etwa Mathias in der Seine landet und Talulah hinterherspringt, um ihn zu retten – beobachtet der Regisseur das Geschehen lediglich mit wachen Augen. So wird das Publikum Zeuge, wie Ereignisse, Probleme und Konflikte kommen und gehen.

 

Schwierige Situationen werden gelöst, Schmerzen gelindert. Als ihre Kinder irgendwann ausziehen, stimmt Elisabeth das traurig – aber ändern kann sie es nicht. Gruppenumarmungen im Wohnzimmer und sanftes Schunkeln zu Chansons von Joe Dassin helfen gegen den Trübsinn. Es ist das sanfte Wechselspiel zwischen Lebenslust und Melancholie, das dem Film seinen unspektakulären, aber anziehenden Charme verleiht.

 

Wärme + Geborgenheit

 

„Was wir für andere waren, wird bleiben“, hält Elisabeth in ihrem Tagebucheintrag zum Schluss fest: „Bruchstücke, Fragmente von uns, die sie glaubten, gesehen zu haben.“ Die Poesie ihrer Worte bestärkt das Gefühl von Wärme und Geborgenheit, das sich im Laufe des Films einstellt; Bilder von Paris, wie es vor fast einem halben Jahrhundert war, und der Soundtrack mit Musik von damals tragen dazu bei.